Wo stehen die USA, wo stehen wir?

Die digitale Transformation der Krankenhäuser im Vergleich
Mirjam Bauer, Michael Reiter
Wo stehen die USA, wo stehen wir?
Mitglieder der deutschen Delegation bei der Besichtigung im Scripps Mercy Hospital: Steuerung des Krankenhauses durch turnusgemäße Besprechungen zu Leistungszahlen, Risiken und Prozessoptimierungen © M. Reiter
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Eine Delegation von Managern im Gesundheitswesen aus der DACH-Region besuchte im Juli Krankenhäuser in San Diego, Kalifornien. Das Ziel der rund 30 Teilnehmer: die US-amerikanischen Ansätze mit den deutschsprachigen zu vergleichen und Anregungen mitzunehmen.

Besucht wurden einige der größten Klinikgruppen an der Westküste: Scripps Mercy Hospital, Sharp Healthcare, Rady Children’s Hospital sowie das Klinikum der University of California, San Diego (UCSD), mit dem Moores Cancer Center und dem Jacobs Medical Center. Auch das San Ysidro Health Center an der mexikanischen Grenze, das mit seinen 14 Einrichtungen in Deutschland als MVZ oder Gemeinschaftspraxen-Verbund bezeichnet würde, gehörte dazu. Der digitale Wandel und der potenzielle Wechsel hin zu „Trumpcare“ standen für einige Teilnehmer auf der Beobachteragenda ganz oben, so Björn Maier, Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg/Mannheim und Vorsitzender des Deutschen Vereins für Krankenhaus-Controlling. Seine Schlussfolgerungen: Im US-amerikanischen Gesundheitssystem hat sich in der neuen Legislaturperiode noch nichts verändert, bei der digitalen Transformation hingegen ist eine große Dynamik zu verzeichnen. Viele Erkenntnisse aus den USA lassen sich auf den deutschen Markt übertragen, um Digitalisierungsprojekte schneller in die Praxis umzusetzen. Auch Joachim Schäfer, Geschäftsführer der Messe Düsseldorf, nahm an der Entscheidertour teil, um zu differenzieren, wohin die Reise in der Gesundheitsbranche führe. „In den USA erkenne ich Zukunftstrends und neue Technologien, die Bedeutung mobiler Endgeräte wird hier korrekt eingeschätzt, weil damit Patienten wie Kunden zufriedengestellt werden“, betonte Schäfer. Insgesamt herrsche eine höhere Dynamik und ein nach vorn gerichteter Optimismus, auch Experimente einzugehen. Dagegen sei man in Deutschland eher zurückhaltend.

Mit fast 30 Prozent Marktführer im stationären Bereich: Sharp Healthcare

In den US-Häusern geht es bei der digitalen Transformation nicht nur um die Kernprozesse: Die Kommunikationsabteilungen nutzen die neuen Möglichkeiten intensiv. Das 60-Personen-Team bei Sharp Healthcare betreut eine Website mit circa 300.000 Aufrufen pro Monat und diversen Social-Media-Kanälen wie YouTube, Instagram, Facebook und Twitter. Sie veröffentlichen Live-Dokumentationen von Schwangerschaft, Geburt und Transplantationen. Eine beliebte App beschäftigt sich mit allen Themen für werdende Eltern. Auch „Follow my health“, ein eigenes Patientenportal mit direkter Online-Terminbuchung und vielen weiteren Optionen, hat sich durchgesetzt. 20 Personen arbeiten im Callcenter der Klinikgruppe, die neben kleinen Häusern in der Region auch das große, 1997 erbaute Sharp Memorial Hospital und eine große Frauenklinik mit 10.000 Geburten jährlich umfasst. Die Effizienzgewinne durch elektronische Patientenakten seien enorm, bestätigt Axel Päger, Leiter der Ameos-Klinikgruppe. Der gleichzeitige Zugriff von Arzt, Pflege und Diagnostikern aus dem Labor und Röntgenabteilung bringe enorme Zeitersparnis, aufwendige Kommunikation oder Doppeldokumentation werde vermieden.

Versorgungskonzept für Kinder in der gesamten Region: Rady Children’s

Ein besonderes Modell „lebt“ die Kinderklinik der Rady Children’s Hospital Foundation. Gegründet als Polioklinik in den Jahren um 1950 entwickelte sich der Leistungserbringer zu einem System, das heute für alle anderen Kliniken in der Region pädiatrische Kompetenz und Leistungen anbietet. Rund 237.000 Kinder werden so jährlich versorgt. Die Digitalisierung klinischer Abläufe und die Präzisionsmedizin sowie eine leistungsorientierte Versorgung spielen eine wichtige Rolle. Zudem zählt die Verfügbarkeit elektronischer Patientenakten für Betroffene und Angehörige zu den Angeboten. An der Einbindung von Gendiagnostik mit kurzen Befundzeiten und Population-Health-Analysen arbeitet man engagiert im angegliederten Forschungsinstitut. Dort läuft ein weltweit führendes Genom-Analyseprogramm mit dem Schwerpunkt auf Erkennung therapierbarer genetischer Erkrankungen insbesondere bei Neugeborenen. Die Sequenzierung ist weitgehend automatisiert – mit Ergebnissen innerhalb von gerade einmal 19 Stunden. Klinisches Datenpooling ermöglicht die Korrelation mit Sequenzierungsergebnissen zur Diagnosestellung und zur Therapieauswahl. Dr. Josef Düllings, Präsident des Verbandes der Krankenhausdirektoren Deutschlands, hielt ein weiteres Angebot der Kinderklinik für richtungsweisend: Das Screening von Kindern in Richtung Selbstgefährdung oder sogar Selbsttötung sei ein präventiver, wichtiger Schritt.

Vernetztes Universitätskrankenhaus mit ausgezeichneter Forschung: UCSD

Die Digitalisierung ermöglicht die Kombination von Public-Health-Daten mit individuellen Patientendaten, so eine zentrale Aussage der Präsentationen an der University of California San Diego/Health. Zur Aktivierung der Patienten, der Einbindung dieser Daten und der Standardisierung zuverlässiger Arbeitsprozesse wie die regelmäßige Abfrage von Laborwerten für chronische Krankheiten werden neue Teams gebraucht. Sie müssen technologieaffin sein: Change Management, Know-how und Pflegewissen spielen eine wichtige Rolle. Wenn Patienten eingebunden und Ärzte motiviert sind, stellt sich der Erfolg schnell ein. Nur geteilte Daten sind gute Daten – weil sie helfen, bessere und individuellere Therapien zu entwickeln. Im UCSD Moores Cancer Center sind Patienten bestens versorgt. Die Einrichtung ist lediglich zwei Tage im Jahr geschlossen, der Betrieb läuft täglich von 7 bis 19 Uhr. Die Krebsbehandlung orientiert sich bislang an der Lokalisation einer Krebszelle im Körper (Beispiel: Krebszelle in der Brust = Brustkrebs), nicht an molekularen Charakteristiken des Patienten. Mittels personalisierter Krebstherapie und Gensequenzierung lassen sich jedoch Erkenntnisse in der Zelle gewinnen, die die Behandlung bestimmen, unabhängig von der Lokalisation des Tumors. Dies bringt einen drastischen Paradigmenwechsel mit sich, der sich auch auf Kosten und Ressourcen auswirkt: Jeder Patient benötigt ein spezielles, persönliches Behandlungskonzept. Bei circa 300 Krebsmedikamenten gäbe es bei einer Kombination aus zwei Medikamenten bereits 45.000 Kombinationsmöglichkeiten, bei drei Medikamenten wären es 4.455.100. Um diese zu testen, bräuchte man 1.000 Jahre. So muss es Ziel einer Behandlung sein, das richtige Medikament dem richtigen Patienten zur richtigen Zeit zu verabreichen. Jeder Tumor ist einzigartig und komplex. Genomik und Immuntherapie sind die Grundpfeiler der „Präzisionsmedizin“. Auf diese Entwicklung sollten sich die Krankenhäuser in den kommenden Jahren vorbereiten.###more###

Von einer Schwesternschaft gegründet: Scripps Health

Scripps Health versorgt rund 700.000 Patienten. Der Konzern zählt zu den Top-15-Gesundheitsanbietern in den USA – unter anderem mit vier Krankenhäusern. Scripps ist der einzige Träger, der unter seinem Dach frei gemeinnützige und konfessionelle Kliniken betreibt. Beschäftigt werden etwa 15.000 Mitarbeiter. Elemente der Gesamtstrategie des Scripps Mercy Hospital sind: Respekt, Qualität, Zukunftssicherung und Wachstum. Diese Strategie wird in allen Teilbereichen und auf allen Ebenen vollständig implementiert. Auch wenn die Klinik noch nicht volldigitalisiert ist, so beeindrucken Aspekte wie Konsequenz und Transparenz. Die Wege, die hier ausgehend von einer Vision in die Umsetzung beschritten werden, gelingen auch mit einfachen Mitteln: beispielsweise über Boards und Hinweise an Zimmertüren. Sie sind für Mitarbeiter und Patienten gleichermaßen sichtbar. Besonders hilft dies auch den Mitarbeitern dabei, ihre Ziele zu fokussieren und ihre Aufgaben zu erledigen. Die Einfachheit, die Konsequenz und die Nutzung der neuen Technologien in Kombination mit dem Design der Entscheidungsprozesse: Davon können wir in Deutschland profitieren. Ein Beispiel betrifft auch die Radiologie: Das technische Personal (MTRA) arbeitet nicht nur in der eigenen Funktionsabteilung; in großen Kliniken gibt es Röntgengeräte und CTs in der Notaufnahme, zu denen täglich circa ein bis zwei Mitarbeiter „eingeteilt“ werden.

Besonders engagiert im sozialen Bereich: San Ysidro Health Center

Die meisten Patienten dieser Einrichtung kommen aus sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten, 85 Prozent sind mexikanischen Ursprungs. Mehr als 80 Prozent sind über Medi-Cal, die kalifornische Variante von Medicaid (die US-amerikanische Krankenversorgung für nicht mehr erwerbstätige Menschen), oder gar nicht versichert. Die Medi-Cal-Vergütung sichert das wirtschaftliche Überleben der Gruppe. Die Teilnahme an einem nationalen Unterstützungsprogramm leistet ebenfalls einen wichtigen finanziellen Beitrag: Die Initiative PACE ist ein auf Kopfpauschalen basierendes Modell, das Senioren ein Leben zu Hause ermöglicht. Die Kliniken leisten ferner einen wichtigen Beitrag für Familien. Es gibt unter anderem Zahnkliniken, Familienzentren und andere „Polikliniken“ mit Laborleistungen.

Stimmen deutscher Klinikexperten und Wissenschaftler

PD Dr. Christoph W. Strey, Gesundheitsökonom und Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie Friederikenstift: „Das amerikanische Gesundheitssystem weist ähnliche Konstellationen auf wie bei uns. Beide bemühen sich um Qualitätsverbesserung, Effizienzsteigerung und Mitarbeiterbindung. In diesem Zusammenhang sollen Abläufe verbessert werden: Durch Digitalisierung in der Diagnostik gibt es immer mehr medizinische Daten, zudem besteht oft ein Wunsch nach personalisierter Behandlung. Dies funktioniert jedoch nur mit künstlicher Intelligenz, also mit neuen Tools und Systematiken. Der Bedarf für die Optimierung der Verarbeitung medizinischer Informationen ergibt sich aus dem Fortschritt für die Individualisierung der Therapie.“ Prof. Dr. Martin Staemmler, Medizininformatik/Hochschule Stralsund: „Das US-Gesundheitssystem bietet geschlossene Versorgungsstrukturen und damit andere Anforderungen an Interoperabilität und Informationsübertragung als in Deutschland. Wir haben eher heterogene Strukturen, die zusammenarbeiten sollen, dabei allerdings oft an ihre Grenzen stoßen. Trusts in den USA bieten Rundumversorgung und werden komplett vergütet. Deshalb ist Datenaustausch kein Problem, weil er konzernintern stattfindet.“ Daniel Diekmann, Geschäftsführer ID Berlin: „Der innovative Anspruch, den die Häuser hier haben und dezidiert verfolgen, ist spannend. Sie verfolgen alle eine Strategie, die sie nachhaltig umsetzen.“ Peter Asché, kaufmännischer Direktor, Universitätsklinikum Aachen: „Der Servicegedanke in amerikanischen Einrichtungen und Krankenhäusern ist beeindruckend. Die Mitarbeiter und sogar die Bevölkerung identifizieren sich mit ihren Häusern, engagieren sich in Richtung Sponsoring et cetera.“

USA: Neue Anforderungen an MTA

Welche Trends wirken sich in Gesundheitseinrichtungen insbesondere auf Mitarbeiter aus? Russ Branzell, CEO der Krankenhaus-CIO-Weiterbildungsorganisation CHIME, stellt fest: „Eine wichtige Veränderung besteht darin, dass immer größere Mengen an Gesundheitsdaten entstehen.“ Diese eröffnen Potenziale für viele zukunftsgerichtete Szenarien, etwa durch den Einsatz von Big Data für personalisierte Medizin und populationsorientierte Gesundheitsanalysen. In diesem Kontext sind Rohdaten wenig hilfreich. MTA, so der Chef des College of Healthcare Information Management Executives, können eine Schlüsselrolle bei der Aufgabe spielen, die Daten für Leistungserbringer und Patienten nutzbar zu machen. MTA kennen sich dabei aus, Daten zu generieren, zu integrieren, zu beurteilen und für andere zu präsentieren – seien es Ärzte mit Suchanfragen in einer elektronischen Patientenakte oder Patienten, die einen PC oder ein Mobilgerät einsetzen. Diskussionen mit der Führungsebene in US-Krankenhäusern – diesen Blick über den Tellerrand empfanden die Teilnehmer der Delegationsreise der Entscheiderfabrik-Initiative als äußerst aussagestark. Welche der Ansätze finden wohl Eingang in die Strategien hierzulande? Die Weiterentwicklung bleibt spannend.

Entnommen aus MTA Dialog 10/2018

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