Das Anschmelzen der Antikathode ist besonders knifflig und ein Meisterstück handwerklicher Arbeit der damaligen Zeit. Sie muss derart eingeschmolzen werden, dass der Platinspiegel exakt im 45°- Winkel zur Kathode steht. Darüber hinaus muss der Mittelpunkt des Spiegels auch noch genau in der Mittelachse der Röhre liegen, sonst entstehen keine scharfen Röntgenaufnahmen. Solche Arbeiten erfordern vom Glasbläser ein höchstes Maß an Geschicklichkeit und viel Übung.
Nachdem die Ionenröhre geblasen und die Metallteile eingebracht sind, was bei den unterschiedlichen Schmelzpunkten von Metall und Glas zusätzliche Tricks erfordert, gelangt sie in den Pumpenraum. Die ersten Quecksilber-Vakuumpumpen wurden damals noch mit den Händen betrieben. Unter geringer Wärmezufuhr mit von unten angebrachten Gasbrennern wurde schlussendlich die Luft „ausgepumpt“.
Abb. 7: Heinrich Ernst Albers-Schönberg. „Er war der erste Röntgenfacharzt und gehörte zu den Begründern der Radiologie in Deutschland.“ | © Autor unbekannt – Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Allgemeinen Krankenhaus St. Georg in Hamburg, Verlag von Leopold Voss, Leipzig 1925, S. 161, gemeinfrei, wikimedia
Zu jeder Pumpe gehört auch ein Funkeninduktor mit möglichst großer Funkenstrecke (30 bis 40 cm), an welchen die Röntgenröhre bei der Evakuierung angeschlossen wird. Und erst wenn der Luftdruck in der Röhre einen Wert zwischen 0,01 bis 0,001 mmHg (0,133 bis 0,013 Pa) erreicht hat, zeigt sich auf dem gegenüber der Antikathode angebrachten Bariumplatincyanür-Leuchtschirm die vorhandene Röntgenstrahlung. Erst bei genügender Strahlenhärte (heute nennen wir das Strahlenqualität) wird mit großer Geschicklichkeit vom Glasbläser die Rohrverbindung zur Quersilberpumpe zugeschmolzen.
Abb. 8: Anlage zum Auspumpen der Luft aus zwei Röntgenröhren. Glasbläserei Firma „R. Burger & Co.“ Berlin. Oben zwei Funkeninduktoren mit Kondensatoren zum Erzeugen von hohen Spannungen | © Foto mit freundlicher Genehmigung von Sven Burger, dem Enkel von Reinhold Burger, ehemaliger Firmeninhaber
Wie prüfte man, ob die Strahlenhärte ausreichend ist?
Es existieren meines Wissens keine gesicherten Daten dazu, aber man geht davon aus, dass noch circa zehn Jahre nach der Röntgenentdeckung diese Prüfung von den Röntgenröhrenherstellern mit der bloßen Hand durchgeführt wurde.
Friedrich Dessauer, Pionier der Röntgentechnik, schrieb in seinem Buch „Kompendium der Röntgenographie“, erschienen 1905: „Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass Röntgenverbrennungen der arbeitenden Ärzte jetzt selten sind; sie kommen fast nur vor bei den Ingenieuren und Arbeitern von Instituten, die mit dem Bau von Apparaten betraut sind und sehr viel damit experimentieren müssen (Röhrenbläser).“
Die „Röhrenbläser“: Noch ein trauriges Kapitel in der Strahlenschutzgeschichte
Das berühmte Buch „Ehrenbuch der Radiologen aller Nationen“ hat die Namen von Männern und Frauen, ihre Biografien und ihre Leiden als Opfer der medizinischen Anwendung der Röntgenstrahlung, zusammengefasst. Die dritte Auflage des Buches erschien 1992 und enthält bereits 359 Namen: Physiker, Ingenieure, Ärzte, Röntgentechniker, Laboranten und Krankenschwestern. Selbstverständlich erhebt das Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber es ist schon bemerkenswert, dass kein einziger Arbeiter der Glasbläserei darunter ist.
Prof. Dr. Albers-Schönberg, Röntgenpionier und bekannter Hamburger Radiologe, selbst Strahlenopfer (ihm gewidmet ist das erste Kapitel des Ehrenbuches), beschreibt in seinem Buch „Die Röntgentechnik: Lehrbuch für Ärzte und Studierende“, 1906, zweite Auflage: „Ich muss hier an den Fall erinnern, welcher sich in Hamburg bei einem mit der Röhrenfabrikation beschäftigten Techniker ereignete. Derselbe hatte eine Reihe von Jahren hindurch seine Hand als Testobjekt gebraucht und schließlich ein tiefes, weitgreifendes Röntgen-ulcus davongetragen. Leider kam er nicht in sachverständige Behandlung, sondern verschleppte die Krankheit, so dass sich auf Grund dieses Ulcus ein Hautcancroid bildete. Letzteres führte bald zu Metastasen in den Drüsen, welche eine Exartikulation des Humerus im Schultergelenk erforderlich machten. Leider ist dieser Fall nicht vereinzelt geblieben.“
Abb. 9: Ehrenbuch
In der dritten, überarbeiteten Auflage 1910 nennt er den Namen des Technikers: Herr Bauerschmidt. Keine weiteren Daten, Titel, Vorname, Alter, Arbeitgeber (in Hamburg waren damals mehrere Firmen, die Röntgenröhren hergestellt haben). Und in der zweiten Auflage des „Ehrenbuchs der Radiologen aller Nationen“ von 1959, in der zweiten Stelle (erste Stelle Prof. Albers-Schönberg) Strahlenopfer aus Deutschland steht: „Bauernschmidt, Hamburg, starb als weiteres Strahlenopfer. Leider konnten biografische Unterlagen aber nicht beschafft werden.“
Der Name ist anders geschrieben. Aber handelt es sich dabei um einen Glasbläser? Eine alte Zeichnung aus der 1897 erschienenen Zeitschrift „Der Mechaniker“ erinnert an diesen wichtigsten Moment, in dem die Ionen-Röntgenröhre ihre „Seele“, ihre „Röntgenkraft“, bekommt. Das Bild „zeigt eine an der Vakuumpumpe befindliche Röntgenröhre in dem Augenblick, als dieselbe auf die Wirksamkeit ihrer Strahlen untersucht wird“.
Abb. 10: Untersuchung der Wirksamkeit | © Zeitschrift „Der Mechaniker“ Nr. 20, 1897.
Alle diese Gedanken hat in mir mein kleiner Schatz aus dem Schuhkarton hervorgerufen. Im Sommer 2021, falls es die Corona-situation in Deutschland wieder erlaubt, habe ich vor, das erste Mal das Glasmuseum Gehlberg, in dem Emil Gundelach 1896 mit der Herstellung von Ionen-Röntgenröhren begann, zu besuchen. Ich werde bestimmt die Zeit finden, einen Abstecher auf den Friedhof von Gehlberg zu machen, wo „einfache“ Mechaniker und Glasbläser beigesetzt sind, um ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Sie standen ganz vorne und sind die eigentlichen Röntgenpioniere.
Entnommen aus MTA Dialog 6/2021
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