Von Vitalismus, Naturphilosophie und Romantischer Medizin zu Medizinischer Wissenschaft (Teil 1)

Historisches
Heinz Fiedler
Von Vitalismus, Naturphilosophie und Romantischer Medizin zu Medizinischer Wissenschaft (Teil 1)
Arzt mit Uringlas © Buchmalerei in einer 1460 geschriebenen Handschrift aus Neapel, 2d copy, gemeinfrei, wikimedia
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Die Medizin des Mittelalters basierte auf der antiken Humoralpathologie von Hippokrates von Kos, die von Galenos von Pergamon und Avicenna (980–1037) weiterentwickelt wurde und bis ins 19. Jahrhundert das medizinische Denken beeinflusste [1].

Die vier Säfte (Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle) sind bei Gesundheit wohlgeordnet (Eukrasie). Bei Krankheiten stören Stoffe (die sogenannte Materia peccans) das Gleichgewicht oder lassen Säfte schlecht werden (Dyskrasie), die deshalb aus dem Körper entfernt werden müssen. Die Diagnostik beschränkte sich auf Harnschau (Uroskopie), Blutschau (Hämoskopie), Stuhlschau (Koproskopie), Sialoskopie (Sputum) und Hidroskopie (Schweiß). Man verzichtete teilweise auf eine direkte Untersuchung des Patienten. Abgesehen von den vielen fiktiven Diagnosen der Uroskopiker konnten real Typ-1-Diabetes (1674, Thomas Willis, süßer Geschmack des Urins), Ikterus und einige Nierenkrankheiten diagnostiziert werden. Eine weitere Methode war die Pulsdiagnose, die an Hand, Schläfe, Lenden und Knie die vier Zeiten des Pulses, die Frequenz in zehn Kategorien analysierte und einen Einblick in die energetische Verfassung des Organismus gab (hoch entwickelt in China). Zur Beseitigung der Dyskrasie standen folgerichtig Aderlass, Schröpfen, Abführmittel und Brechmittel zur Verfügung. Der französische König Ludwig XIV. bekam etwa 2.000 Einläufe und wurde 38-mal zur Ader gelassen. Literarisch hat Molière das Vorgehen im „Eingebildeten Kranken“ verarbeitet.

Eine Abart der Viersäftelehre wurde von Franz Anton Mesmer (1734–1815) als animalischer Magnetismus (Mesmerismus) propagiert und wurde oft gemeinsam mit dem Galvanismus von den Naturphilosophen (siehe unten) übernommen. Ein unsichtbarer Lebensstoff, ein Fluidum, durchströme den Körper und sei im Kranken ungleich verteilt. Durch „magnetische Heilströme“ und Handauflegen (Hypnose, Dämmerzustände) und gemeinsam mit den oben genannten Therapien der Säftelehre wurde versucht, die Körpersäfte wieder in Balance zu bringen. 1816 wurden in Berlin und Bonn Lehrstühle für Animalischen Magnetismus eingerichtet, obwohl französische und englische Kommissionen die Verfahren als wirkungslos eingeschätzt hatten.

Aufklärungsmedizin

Um 1650 wollte man auf philosophischem Gebiet alle den Fortschritt behindernden Strukturen durch rationales Denken überwinden. Dem Dunkel und Aberglauben des Mittelalters sollte das Licht der Erkenntnis entgegengesetzt werden (Lichtmetaphorik, engl. Enlightenment). In Deutschland ist der Begriff Aufklärung besonders durch Immanuel Kant eingeführt worden („wage es, weise zu sein“). Der Zeitraum liegt etwa zwischen dem medizinischen Programm (1671/2) von Gottfried Wilhelm Leibniz und der „Medicinischen Policey“ von Johann Peter Frank (1745–1821), der bereits Krankheit und Armut nicht mehr als gottgegeben oder selbstverschuldet, sondern als sozial bedingt betrachtete. Auf dem Gebiet der Kunst gehen Barock, Romantik und das deutsche Biedermeier ineinander über. In der Politik ist nach dem Aufgeklärten Absolutismus in Preußen und Österreich die Französische Revolution ein markanter Wendepunkt.

Die akademische Ausbildung konzentrierte sich auf die Universitäten, besonders in Italien, den Niederlanden und Deutschland (Halle und Marburg). Wissenschaftliche Akademien bildeten sich 1582 in Florenz, 1635 Académie francaise in Paris, 1652 Leopoldina in Schweinfurt und 1660 die Royal Society in London. Leitwissenschaften waren (neben Theologie und Philosophie) Mathematik und Physik. In den Beziehungen zur Medizin sprach man von Iatrophysik und Iatrochemie (Gravimetrie, Urinanalyse). Viele Apotheken richteten bereits damals chemische Laboratorien ein und stellten Elexiere, Auszüge und alkoholische Tinkturen her. Noch heute sind Hoffmanns Tropfen bekannt (Friedrich Hoffmann 1660–1742).

Die Mechanik der Physik wurde auch auf den Menschen übertragen. J. O. de La Mettrie (1709–1751) sprach von L‘homme machine, ebenso wie Descartes. Die Experimente von Luigi Galvani (1737–1798) bewiesen die Weiterleitung von elektrischen Impulsen durch die Nerven. Die Anatomie erhielt eine fundamentale Bedeutung und wurde durch anatomische Sektionen und Studien an Tieren gefördert. Die Entdeckung des Blutkreislaufes 1628 durch William Harvey (1578–1657) widerlegte die antike Lehre, dass Herz und Arterien sich wie ein Blasebalg ausdehnen und das Blut in der Leber neu gebildet wird. Harveys Erkenntnisse wurden 1661 durch die Beobachtung der Nieren- und Lungenkapillaren durch Marcello Malpighi (1628–1694) und der Lymphgefäße durch Gaspare Aselli (1581–1626) gestützt. Robert Boyle (1627–1691) und John Mayow (1643–1679) stellten außerdem bei qualitativen Blutgasanalysen unterschiedliche Färbungen des Blutes vor und nach der Lungenpassage fest. Dennoch bedurfte es 1673 des Befehls von Ludwig XIV., dass die Lehre von Harvey und nicht die von Galen zu übermitteln sei.

Die praktische Medizin verharrte allerdings bei einer Mischung von Astrologie, qualitativer Beschau und Humoralpathologie. Da die Struktur und Funktion der Natur auf die Weisheit des Schöpfers zurückgeführt wurde, blieben die Eingriffe des Menschen auf wenige Maßnahmen begrenzt. Von 273 Rezepten waren nur drei voll wirksam: Aderlass, Opium und Emetika. 1795 veröffentlichte der deutsche Arzt und Philosoph Johann Benjamin Erhard (1766–1827) einen aufsehenerregenden Aufsatz über die Krise der Medizin, die Unsicherheit des medizinischen Wissens und das Fehlen von klaren Ideen über allgemeine und spezielle Krankheiten.

Naturphilosophie und Medizinische Romantik

Anregungen für romantische Ideen kamen zunächst von John Hunter aus Schottland, wonach das Leben als Prinzip nicht auf materielle Konstruktionen reduziert werden konnte. In Deutschland begründete der Philosoph Friedrich Wilhelm von Schelling (1775–1854) eine spekulative Naturphilosophie. Er arbeitete zeitweise mit Fichte und Hegel zusammen und veröffentlichte 1804 das „System der gesamten Philosophie und Naturphilosophie insbesondere“. Seine Methodik beruhte auf der Identität von Sein und Bewusstsein, Materie und Geist (Gefühl, Glauben) sowie Leib und Seele. Als Folge nahm die „Psychiatrie“ einen ungeahnten Aufschwung (unbewusste Träume, Hysterie, Hypnose, Mesmerismus und Somnambulismus). Geisteskrankheiten wurden zur Modeerscheinung. Krankheiten waren Störungen der Harmonie des Menschen mit dem All. Eine große Rolle bei Entstehung und Verschwinden von Naturerscheinungen spielten polare Gegensätze, wie Elektrizität und Magnetfelder [2].

Besonders in Deutschland entwickelt sich eine Phase der Romantischen Medizin, gefördert von den Universitäten (Jena, Bamberg, Würzburg, Halle, Wien) und der Kultur sowie von Adel und höchsten Kreisen: Sächsische Könige/Carl Gustav Carus (1789–1869), Kurfürst Dalberg/C. J. H. Windischmann (1755–1839) und bayerische Könige/Justinius Kerner (1786–1862). Umgekehrt gab es enge Beziehungen von Ärzten zu Literaten und Musikern. Der bekannte Internist und Diabetologe Adolf Kußmaul (1822–1902, Kußmaulsche Atmung) veröffentlichte mit dem Journalisten L. Eichrodt einige Gedichte unter dem Pseudonym „Biedermaier“ und prägte damit die Biedermeier-Epoche. Es entstanden große Enzyklopädien und Lehrbücher, daneben Romane, Gedichte und Bilder unter Beteiligung von Ärzten.

Vitalismus

Im Vitalismus stand eine Lebenskraft (vis vitalis) im Zentrum alles Lebendigen beziehungsweise eine Seele im Gegensatz zum Mechanismus. Nach den Vitalisten ist das Leben „von oben“ bestimmt. Vitalismus war ein Platzhalterbegriff für unverstandene körperliche Vorgänge und war notwendig für den Übergang von der anorganischen in die organische belebte Welt. F. C. Medicus (1736–1808) führte 1774 den Begriff Lebenskraft (vital force) in die Tierchemie ein. J. F. Blumenbach sprach 1781 von Bildungstrieb (nisus formativus, Gestaltungsprinzip), der angeboren und lebenslang durch Generation, Nutrition und Reproduktion für die Erhaltung des Lebens sorgt. Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) bezeichnete das Selbsterhaltungsprinzip des Organismus ebenfalls als Lebenskraft, die bei Krankheit durch krank machende Reize beeinträchtigt wird und durch Heilkräfte der Natur behoben werden kann. Die Lebenskraft war eine Sammlung von verschiedenen Elementen, wie den Körper steuernden Animismus von Georg Ernst Stahl (1659–1734), dem organbezogenen Vitalismus von Théophile Bordeu und der Sensibilitäts- und Reizbarkeitstheorie von Albrecht von Haller (1708–1777). Stahl schrieb der Anima eine Kontrollfunktion zu, deren Versagen zur Krankheit führt. Entsprechend der damaligen Vielseitigkeit hatte Stahl in Jena auch Chemie studiert und 1697 die Phlogistontheorie der Verbrennungen (Oxidation) aufgestellt. Trotz der falschen Annahme, dass bei Verbrennungen Phlogiston entweicht und bei Reduktionen wieder aufgenommen wird (modern ist es also eine Redox-Reaktion!), wurde diese Theorie erst durch Antoine de Lavoisier (1743–1794, quantitative Analysen) und Joseph Priestley (1733–1804, Entdecker des Sauerstoffs) widerlegt.

Christoph Wilhelm Hufeland | © Lithographie von Adolf Kunike, 1819, gemeinfrei, wikimedia

Viele Naturphilosophen betrachteten die Elektrizität als ein zentrales Merkmal, das Lebewesen von unbelebter Materie unterscheidet. Jede ärztliche und Selbstbehandlung sollte die individuelle Lebenskraft unterstützen, wie Diätetik, physikalische Therapie, Wasseranwendungen und an letzter Stelle Medikamente. J. B. Willbrandt (1779–1846) studierte Medizin, Philosophie und Theologie, schrieb viele naturphilosophische Werke über die Physiologie von Atmung und Kreislauf und korrespondierte mit Goethe über Naturheilkunde. G. Büchner (Dichter und Arzt) hatte bei Willbrandt studiert und setzte ihm in der Doktorfigur des „Woyzeck“ ein literarisches Denkmal. „Dem Doktor geht es nur um die Urinproduktion nicht um den Patienten.“ Im Rückblick auf diese Zeit wird eingeschätzt, dass es der romantischen akademischen Medizin um Theorien und Gedankengebäude ging und der Patient als Individuum verschwunden war [3]. Aktuell könnten wir ebenfalls vor der Gefahr stehen, dass unter der Informationstechnologie (künstliche Intelligenz) die Gesamtperson des Patienten entschwindet.

Ende des 19. Jahrhunderts hat Eduard von Rindfleisch (1836–1908) eine neovitalistische Philosophie über Selbstorganisation und die Einheit von Kraft und Stoff vorgestellt. Er sah den Organismus als eine Gemeinschaft kooperierender Zellen und entsprach damit Virchows Meinung vom „Zellstaat“. Hans Driesch (1867–1941) hat im Neovitalismus den antiken Entelechie-Begriff wiederbelebt, um die Keimesentwicklung als Systemleistung mit der Möglichkeit zur Selbstregulation und Regeneration zu beschreiben. Im 21. Jahrhundert musste man das Dogma verlassen, dass im Genom ein Gen eindeutig ein Phänomen (Phänotyp) bestimmt, sondern es sind unterschiedliche Strukturen und Funktionen möglich. Im Rückgriff auf das 19. Jahrhundert sprach man von „molekularem Vitalismus“ [4]. Die Vielzahl möglicher Phänotypen ist offenbar zusätzlich abhängig von externen Ursachen, statistischen Ereignissen und Selbstorganisation(en).

Naturhistorische Schule

Mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert setzte eine stürmische Entwicklung der Technik (besonders in England) und Naturwissenschaft (besonders in Frankreich) ein. Dazu kamen tiefgreifende politische Umwälzungen, ausgelöst durch die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und die folgende Restauration. Viele Professoren und Studenten waren überraschend stark politisch eingebunden. Die Übergangsphase zur Naturwissenschaftlichen Medizin wird als Naturhistorische Schule zusammengefasst. Es gelang erstmals, fest umrissene Krankheitsbilder zu beschreiben und zu systematisieren. Aus den zahlreichen Krankheitssymptomen wurden die wesentlichen und konstanten Erscheinungen ausgewählt, sodass Unterscheidung, Verlauf und Prognose der Krankheiten und deren Klassifizierung möglich wurden.

Der Krankheitsprozess wurde als Kampf des Organismus oder der Organe mit der(en) zugrunde liegenden Ursache(n) angesehen. Von den „Parasitikern“ wurde die Krankheit als ein sich entwickelnder „Parasit“ oder die „Pathologie als Physiologie der Krankheit“ angesehen. Vertreter waren K. W. Stark (1787–1845, Hausarzt von Goethe und Schiller) und Ferdinand Jahn (1804–1859, Hofmedicus in Meiningen). Gottfried Eisenmann (1795–1867), ein Schüler von J. L. Schönlein, vertrat zeitlebens die Ideen der Naturhistorischen Schule, aber betonte die naturwissenschaftlichen Grundlagen, führte Auskultation und Perkussion ein und betonte die Wichtigkeit der Obduktionsbefunde. Seine politischen Aktivitäten gegen die Restaurationspolitik in Bayern führten zu mehrjährigen Zuchthausstrafen und verhinderten den Aufstieg in eine akademische Laufbahn. In der Frankfurter Nationalversammlung sprach er sich bereits damals für Unterstützung der Arbeiter bei Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und unverdienter Arbeitslosigkeit aus.

Literatur

  1. Fiedler H: Galle und Gallensäuren. Teil 1. MTA Dialog 2019; 20: 488–91.
  2. en.wikipedia.org/wiki/Romantic_medicine
  3. Jewson ND: The disappearance of the sick-man from medical cosmology. 1770–1870. Sociology 1967; 10: 255–44.
  4. Kirschner M, Gerhart J, Mitchison T: Molecular „vitalism“. Cell 2000; 100: 79–88.
  5. Anordnung über diagnostische Labormethoden. Gesetzbl. DDR, Teil I, Nr. 5, 10. 3. 1987.
  6. Coley NG: Medical chemists and the origin of clinical chemistry in Britain (circa 1750–1850). Clin Chem 2004; 50: 961–72.
  7. Binder DK, Schaller K, Clusmann H: The seminal contributions of Christian Reil to anatomy, physiology and psychiatry. Neurosurgery 2007; 61: 1091–6.
  8. de.wikipedia.org/wiki/Zellbiologie

Entnommen aus MTA Dialog 8/2020

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