Der dortige Institutschef prägt neue Rahmenbedingungen mit; gemeinsam mit seinem Team erprobt er neue Technologien und Methoden und setzt sie für die Krankenversorgung ein. Die Greifswalder sind Vorreiter – für eine neue, tragende Rolle des Labors in einer vernetzten, besseren, individualisierten Medizin.
Seit 2002 verantwortet Prof. Dr. med. Matthias Nauck das Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin an der Universitätsmedizin Greifswald. Der Experte hat viele Hüte auf; sie zeigen die Breite seiner Aktivitäten und seiner Leidenschaft für das klinische Labor: Er ist Vorsitzender des Beirates zur Qualitätssicherung laboratoriumsmedizinischer Untersuchungen, Vorsitzender der Fachgruppe D1 (quantitative laboratoriumsmedizinische Untersuchungen) und beratendes Mitglied in der Gendiagnostikkommission – alles Funktionen im Auftrag der Bundesärztekammer; er fungiert ferner als Präsident der DGKL und ist dort auch Mitglied in der Weiterbildungskommission, Vorstandsvorsitzender bei INQUAM e. V., Mitglied in der Kommission Labordiagnostik bei der Deutschen Diabetes Gesellschaft sowie stellvertretender Ringversuchsleiter bei Instand e. V. Darüber hinaus ist Prof. Nauck in zahlreichen wissenschaftlichen Verbünden wie der NAKO-Gesundheitsstudie und dem DZHK engagiert.
Das engagierte Team
Die Leitende MTLA Jutta Kempcke beschreibt Prof. Dr. Naucks Institut in Greifswald: „Wir sind 25 MTLA in der Krankenversorgung mit den entsprechenden Diensten, dazu zehn MTLA in der Forschung – in enger Zusammenarbeit; Dienste leisten beide Gruppen. Durch die interdisziplinäre Struktur werden die vorhandenen Laborgeräte gemeinsam von der Laboratoriumsmedizin, der Medizinischen Mikrobiologie und der Transfusionsmedizin genutzt. So kümmern sich die MTLA aus der Laboratoriumsmedizin seit einiger Zeit auch um die Betreuung der Blutgruppenserologie und der Blutkulturen.“ Das Team der MTLA arbeitet zum Teil bereits seit 40 Jahren zusammen, erläutert Kempcke weiter; daher steht nun für manche die Rente an. „Nachwuchs zu bekommen wird inzwischen immer schwieriger, weil junge Menschen lieber Stellen ohne Dienste annehmen beziehungsweise in der Industrie arbeiten wollen – mit mehr Freizeit. Forschungsstellen mit Arbeitszeiten von 8 bis 17 Uhr werden auch besser angenommen als Aufgaben in der Krankenversorgung, die mit Arbeitszeiten am Wochenende und nachts einhergehen.“ – Eine Medizinische Fachschule für die MTA-Ausbildung ist der Universitätsmedizin in Greifswald angegliedert.
Die Abläufe im Labor
Über eine Tempus-Rohrpostanlage gelangen die Patientenproben aus Notfallambulanz und Intensivstationen direkt in den Bulkloader der Laborstraße – eine deutliche Erleichterung für das Arbeiten in den Nachtdiensten, betont Kempcke. Das Labor ist seit mehr als zehn Jahren hochautomatisiert; „das muss man mögen, diesen Betrieb über 24 Stunden am Tag“, so die Leitende MTLA. „Alles geschieht hier hoch standardisiert, wobei die Mitarbeitenden unter dem Lärm der Geräte leiden; vieles hat sich verändert vom Zubereiten der Reagenzien zu Beginn ihrer Berufstätigkeit bis hin zum Hightech von heute.“ Dass die Honorierung über die Jahre nicht wirklich angepasst wurde, bedeute Handlungsbedarf.
Das Labor im Wandel
Die Labormedizin steht heute an einem Wendepunkt, bestätigt Prof. Dr. Nauck: „Viele Methoden und Technologien früherer Jahre sind abgelöst. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von der Vereinfachung der Analytik durch immer bessere Gerätetechnik, Standardisierung, Automatisierung und die Etablierung der patientennahen Sofortdiagnostik, der POCT.“
Beispiel POCT
Patientennahe Sofortdiagnostik läuft immer noch im bescheidenen Umfang, oft nur fokussiert auf Blutgasanalysen und die Glukosebestimmung, konstatiert der Laborleiter; hier hätte er sich vor zehn Jahren einen größeren Anstieg des Portfolios und der Analysenzahlen erwartet. Vielleicht wird es doch noch Realität? Als dafür gewappnet sieht jedenfalls Prof. Dr. Nauck sein Institut. „Wir haben uns um die Einführung und Umsetzung der patientennahen Sofortdiagnostik unter Verantwortung des Zentrallabors auf den Stationen gekümmert. Als Laboratorium sind wir für die Geräteauswahl, die Gerätebetreuung, die Präanalytik, Analytik und die Schulungen verantwortlich. Von insgesamt 4.000 Mitarbeitern an der UMG haben wir circa 2.500 Personen für den Umgang mit den Methoden geschult. Mit einem Barcode können sich die geschulten Mitarbeiter am Gerät freischalten, andere dürfen es nicht nutzen.“
Wohin gehen die weiteren aktuellen Entwicklungen? Die individualisierte, personalisierte oder stratifizierte Medizin wird sich durchsetzen, ist sich der Laborleiter sicher. „Da wir alle älter und nicht selten multimorbid werden, entstehen neue, andere Herausforderungen. Daher leisten wir hier Unterstützung, indem wir mehr Informationen aus den ‚OMICS-Technologien‘ für bessere und frühere Diagnosen ziehen, so beispielsweise auch bei Diabetes und Fettstoffwechselstörungen.“
NMR und SHIP-Studie
Die 1H-Kernspinresonanzspektroskopie („Nuclear Magnetic Resonance“, NMR) ist ursprünglich eine Strukturaufklärungsmethode aus der Chemie: Über eine Referenzsubstanz misst ein 600-MHz-Gerät die chemische Verschiebung der Protonen, ausgelöst durch das Magnetfeld, wodurch Informationen über die einzelnen Moleküle und deren Konzentration gewonnen werden. In Greifswald kommt auch diese innovative Technologie zum Einsatz. Prof. Dr. Nauck zu den Vorteilen: „Während klassische Laborverfahren vielfältige Probleme bei der Richtigkeit der Messungen bei unterschiedlichen Reagenzienchargen und verschiedenen Geräteplattformen mit sich bringen, ist die NMR-Spektroskopie robust, schnell und spezifisch – wir erhalten innerhalb von 30 Minuten hochwertige Ergebnisse.“ Die Methode werde hinsichtlich ihrer zahlreichen Informationen von keinem anderen Verfahren übertroffen. „Wir nutzen diese Spektroskopie aktuell insbesondere für die Lipoproteinanalytik und zur Etablierung von Verfahren zur Früherkennung von Krankheiten.“ Im Jahr 2019 wurden wir von Bruker Biospin zum weltweit einzigen Referenzzentrum für NMR-basierte Lipoproteinanalytik benannt. Als weiteres Beispiel nennt der Experte die Bestimmung des biologischen Alters, die mithilfe der populationsbasierten SHIP-Studie erarbeitet wurde.
Diese Studie läuft seit 1997 an der Universitätsmedizin Greifswald. Sie ist ein wertvolles Instrument, um wissenschaftliche Erkenntnisse zum Beispiel für metabolische Signaturen zu gewinnen. Als eines der Vormodelle zur bundesweiten Gesundheitsstudie NAKO startete sie mit rund 4.500 Probanden. Nach dem Start der zweiten unabhängigen Kohorte SHIP-Trend wird aktuell an der dritten Kohortenstudie gearbeitet, die im Jahr 2020 beginnt.
Immer mehr Tests im Neugeborenenscreening
Auch beim Neugeborenenscreening sind die Greifswalder ganz vorn mit dabei, so Dr. Theresa Winter: Die Messung erfolgt bei Neugeborenen am zweiten bis dritten Lebenstag per Trockenbluttest. „Das ist heute eine Vorsorgeuntersuchung für alle Kinder, die aktuell 16 Erkrankungen umfasst. Weltweit ist das Screening die beste Vorsorgeuntersuchung überhaupt; Kinder geraten in Lebensgefahr, wenn sie an einer der getesteten Krankheiten leiden.“ Im Rahmen eines ersten EU-Projekts wurde hier Mukoviszidose hinzugefügt, inzwischen läuft ein zweites EU-Projekt hinsichtlich drei zusätzlicher Erkrankungen. Der Test auf Sichelzellen-Anämie wird aktuell in den Gremien diskutiert; die Untersuchung auf schwere Immundefekte wurde in diesem Jahr als Regelleistung durch den G-BA eingeführt; die Untersuchungen auf erhöhte Cholesterinkonzentrationen könnte wichtige frühzeitige Hinweise auf einen gestörten Lipidstoffwechsel geben.
Biobank für Gesunde und Kranke
Studien gestalten sich völlig unterschiedlich in Durchführung und Aliquotierung, erläutert Winter – sie wenden sich an Gesunde wie im Fall von NAKO und SHIP oder sind klinisch ausgerichtet, wie bei GANI_MED (Greifswald Approach to Individualized Medicine) mit definierten Erkrankungen. Hierzu werden Proben von Patienten mit gegebenenfalls identischen Krankheiten gezielt gesammelt. „Generell sammeln wir unterschiedlichste Materialien – Serum, Blut, Plasma, DNA, Speichel, Zahn-/Rachenabstrich, Stuhl“, erklärt Winter; „dabei sind die identische Durchführung und Qualitätssicherung sehr wichtig; danach erfolgt die Einlagerung in die Biobank“. Die Ausstattung dieser Biobank wird durch Mittel des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert. Prof. Nauck betont: „Alle diese operativen Aufgaben in der Probenbearbeitung obliegen den MTLA, auf die wir uns zu 100 Prozent verlassen können. Die Forscher stehen am Anfang und Ende – sie wollen bestimmte Materialien einlagern und am Ende für Untersuchungen nutzen, um Erkenntnisse zu bestimmten Fragen zu gewinnen.
Das Labor ist seit mehr als zehn Jahren hochautomatisiert.
Wichtig, so hebt Winter hervor, ist die Beachtung der Präanalytik: „Wann wurde die Probe abgenommen, wann zentrifugiert, eingefroren etc.? Wir setzen nun gezielt mehr Zeitstempel, um dies zu überwachen, zu managen, zu dokumentieren.“ Der Einsatz von Software, insbesondere der Lösung Centraxx, leistet dabei wertvolle Unterstützung.
Im Hinblick auf die Kommunikation ist das Biobank-Team sehr aktiv. Dabei arbeitet es mit zahlreichen Biobanken und dem German Biobank Node (GBN) zusammen. Winter: „Das Thema Biobanken ist vielen nicht hinreichend bekannt, auch zahlreichen Kollegen im medizinischen Umfeld nicht. Hier bleibt kommunikativ noch viel zu tun.“
EFQM als Gradmesser für Exzellenz
Prof. Dr. Nauck erinnert sich: Die Universitätsmedizin Greifswald hat als erstes Universitätsklinikum die Auszeichnung laut dem EFQM „Business Excellence Model“ erreicht. „Für die Labormedizin wurden wir im April 2019 für ‚Excellence 4 Star‘ mit 430 Punkten ausgezeichnet.“ EFQM, von Organisationen und erfolgreichen Industriefirmen wie BMW und Tesa angewendet, wurde als Modell für Europa aufgesetzt, um exzellente Managementkompetenzen zu entwickeln. Das Raster macht den Stand einer Organisation im Vergleich zu anderen greifbar – indem es intern die „Befähigerkriterien“ beschreibt und bewertet. Führung, Strategie, Mitarbeiter, Partner, Prozesse: Mit dem Blick in die internen Strukturen soll das Modell aufgrund von Selbstbewertungen und im Benchmark herausarbeiten, wie eine Organisation aufgestellt ist. „Dieses Modell hilft uns, unsere Ziele im Auge zu behalten“, sagt Qualitätsmanagerin Katja Riemann. „Das Dokumentieren und die Bewertung, etwa im Projektmanagement, bringt Erkenntnisse für den laufenden Betrieb und erschließt Potenziale für unsere Weiterentwicklung.“ Als QM-System nutzen die Greifswalder eine prozessorientierte Software.
Der Institutsleiter ist sehr zufrieden mit den QM-Aktivitäten. „Sie verdeutlichen, dass wir uns im oberen Viertel der bewerteten Unternehmen bewegen – das bedeutet eine sehr gute Auszeichnung für unsere Arbeit über die letzten Jahre.“
Rili-BÄK erfordert Anpassungen
Neue Methoden, neue Technologien manifestieren sich im Labor – und auch die Richtlinie der Bundesärztekammer (Rili-BÄK) ist alles andere als statisch, das erschließt sich aus dem Gespräch mit Prof. Dr. Nauck. „Seit 2014 haben wir den Teil A deutlich weiterentwickelt“, so der Experte, der sich in den Gremien zur Richtlinie engagiert. „Qualitätsmanagement beruht heute nicht nur auf der Ansammlung zahlreicher ‚Dokumente‘, sondern auf der ‚dokumentierten Information‘ – ein deutlicher Hinweis auf die Prozessorientierung.“ Peer Review ist für das Labor heute eine attraktive freiwillige Option, die es früher nur in der Anästhesie gab: Die Fachgesellschaft liefert Vorgaben, dazu erfolgt der Austausch auf Augenhöhe mit Ärztinnen und Ärzten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie den MTLA. „Das bringt meines Erachtens große Vorteile gegenüber der Akkreditierung, da der fachliche Dialog das Geschehen prägt und nicht das Überprüfen von Dokumenten, die im wirklichen Leben kaum genutzt werden.“
Wo sieht der Experte aktuelle wichtige Änderungen? Bei der für die Erkennung und Therapieüberwachung des Diabetes wichtigen Messgröße HbA1c konnten die Qualitätskriterien den medizinischen Erfordernissen angepasst werden: Bei den Ringversuchen wurde die erlaubte Abweichung von 18 auf acht Prozent gesenkt; bei den benutzungstäglichen internen Qualitätskontrollmessungen – nach einer Übergangszeit – sogar von zehn auf drei Prozent.
Labormedizin auf neuem Niveau/Verantwortung bleibt
Prof. Dr. Nauck will die Labormedizin auf ein neues Niveau heben und die Anforderungen der stratifizierten Medizin meistern. „Wir müssen zukünftig in der Lage sein, auch kleine Veränderungen der Blutbestandteile sicher und zuverlässig zu analysieren. Da stellen die aufgezeigten neuen Anforderungen an die analytische Qualität des HbA1c ein wichtiges Beispiel dar.“ Das Engagement in der DGKL und der Bundesärztekammer sowie das Fördern von Teamarbeit und interdisziplinärem Austausch sind in seinen Augen wichtige Bausteine auf dem Weg in das Labor der Zukunft – „all das macht interdisziplinäre Medizin aus: vom Mikrobiom über das Metabolom und die Bildgebung. Ziel ist die umfassende Krankenversorgung und die dazugehörige Forschung, um diesem Vorhaben näher zu kommen.“
Eine essenzielle Rolle spielen in diesem Ökosystem die MTLA. Prof. Dr. Nauck: „War in den letzten Jahren eher Prozessdenken gefragt, so gewinnt nun die medizinische Beurteilung an Bedeutung – etwa im Kontext der großen Datenmengen auch aus dem Bereich der OMICS-Technologien.“ Daher, so der Experte, sind heute IT-Kompetenz und computerunterstütztes Denken und Handeln notwendig, weniger die ausschließliche Gerätekenntnis. Während die künstliche Intelligenz zunehmend die Gerätetechnik bereichert, bleibt trotzdem die Fehlererkennung und -quellensuche durch den Menschen eine wichtige Aufgabe im medizinischen Laboratorium; Aufgaben in der Analytik und Qualitätssicherung müssen die MTLA auch künftig weiterhin verantwortlich leisten.
Entnommen aus MTA Dialog 12/2019
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