Dazu hat die Autorin Gemälde betrachtet, Opernlibretti, Romane, Erzählungen und Memoiren gelesen, aber auch Statistiken von Todesursachen analysiert, das Massenelend, das mit der Industrialisierung einherging, ebenso studiert wie Städtebau, die Geschichte der Heilstätten und die Medizingeschichte von der Entdeckung des Erregers durch Robert Koch im Jahr 1882 bis hin zur Entwicklung der Chemotherapie. Die Antibiotika haben die Infektionskrankheiten überwiegend vorteilhaft beeinflusst; besonders bei der Tuberkulose durch Einführung des Streptomycins 1943 durch Walkman; selbst in fortgeschrittenem Stadium konnte nun die Tbc geheilt werden. Bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts war die Schwindsucht unheilbar, und ihre Diagnose bedeutete ein fast sicheres Todesurteil. Es ist daher auch berechtigt, die Mitte des 20. Jahrhunderts als das Ende einer der größten sozialen Revolutionen der Geschichte anzusehen. Der Ausschaltung der endemischen Infektionskrankheiten aus dem täglichen Leben gebührt dabei der Hauptverdienst.
Zum Schluss geht die Verfasserin auch noch auf die gegenwärtige Tuberkuloseepidemiologie ein: In der Tat hat die Tuberkulose in der westlichen Welt ihren Schrecken verloren. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war sie hierzulande noch die führende Todesursache; im Jahr 1900 sind 70.000 Menschen alleine in Preußen gestorben. Seit Mitte der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts verhalf besonders die HI-Virusinfektion dem Erreger der Tuberkulose – Mycobacterium tuberculosis (Tuberkelbazillus) – zu einem „dramatischen Comeback“; besonders in Ländern der „Dritten Welt“. Resistente Tuberkulosestämme breiten sich rasant aus – eine infektiologische Katastrophe. Die Tuberkulose gehört heute zu den zehn häufigsten Todesursachen weltweit. Zwei Drittel der Infizierten leben in den Armutsregionen Afrikas, Osteuropas und Zentralasiens. Die Tuberkulose wird fälschlicherweise heute in Europa als ein nur noch historisches Leiden wahrgenommen, obwohl sie nach wie vor gegenwärtig ist. Noch im Jahr 2012 lag die Zahl der in Deutschland neu entdeckten Tuberkulosefälle bei 5,2 pro 100.000 Einwohner. Im Jahr 2015 stieg sie auf 7,3 Fälle pro 100.000, das entspricht einem Zuwachs um 40 Prozent. Über Krankheit nachzudenken, ist eine Form der Selbstvergewisserung und der gesellschaftlichen Prüfung, so die Autorin. Wie mit Krankheit und Kranken umgegangen wird, gibt Auskunft über eine Gesellschaft und ihre Zeit, über Weltanschauungen und Werte, ihr Menschenbild. Krankheit ist nicht nur eine biologische Veränderung, ein persönliches Drama, sondern hat auch eine soziale, gesellschaftliche und historische Bedeutung. Jährlich, so vermutet man, erkranken weltweit circa zehn Millionen Menschen neu an Tbc, davon sterben jährlich circa drei bis vier Millionen an deren Folgen, dessen sollten wir uns bewusst sein und aus der Historie des hervorragenden Werks wegweisende Schlussfolgerungen entnehmen.
Schwindsucht-Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte
Von: Ulrike Moser, Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2018, 264 Seiten, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN: 978–3–95757–556–2, Preis: 26,00 Euro
Entnommen aus MTA Dialog 3/2020
Artikel teilen