SARS-CoV-2: Alles überstanden?

Buchbesprechung
Ludwig Zahn
Cover des rezensierten Buchs
© Ullstein
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Prof. Dr. med. Christian Drosten und der Journalist Georg Mascolo haben ein Buch in Form eines Gespräches zur Coronapandemie veröffentlicht. Im Gespräch, das bereits im vergangenen Herbst begonnen hatte, wollen sie den wichtigsten offenen Fragen dieser Gesundheitskatastrophe nachgehen.

Es ist chronologisch aufgebaut – von den ersten Meldungen in China bis zum Blick in die Zukunft und möglichen neuen Pandemien. Aufgrund des zeitlichen Vorlaufs gehen die beiden nicht näher auf die inzwischen ungeschwärzt vorliegenden „RKI-Files“ ein. Hier hätte es sicherlich noch einige Fragen gegeben, die Mascolo hätte aufgreifen können, vor allem gerade im Hinblick auf die Rolle der Politik. Der Diskussion um eine (von Teilen der Politik geforderten) Impfpflicht wird im Buch viel Raum gegeben, was sicherlich aufgrund der Folgewirkungen und des Vertrauensverlusts gerechtfertigt erscheint. Gut wird beschrieben, wie sich Selbstgefälligkeit in Deutschland breitgemacht hatte nach der ersten Welle, die dann am Ende zur tödlichen Winterwelle 2020/21 geführt hatte. Es blitzt in den Statements immer wieder das Versagen der Politik (und die Schwächen der föderalen Struktur in Krisenzeiten) nach der ersten Welle auf. Positiv: Es erfolgt außerdem ein Blick zurück zum Beispiel zur Spanischen Grippe oder auch der Asiatischen/Hongkong-Grippe, die schon erhebliche Auswirkungen hatten, aber nicht im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Oder die (schlagzeilenträchtige) Schweinegrippe und SARS1, bei denen es nur glückliche Umstände waren, die vor Schlimmerem bewahrt haben. An die Vertuschungsversuche und Fehleinschätzungen der chinesischen Regierung wird ebenfalls erinnert. Eigene Fehleinschätzungen verschweigt Drosten nicht: „Ich lag bei meiner persönlichen Einschätzung zur Freiwilligkeit von Verhaltensänderungen komplett falsch. Mich hat die Politik eines Besseren belehrt. Wenn die Eingriffe durch die Politik nicht stattgefunden ­hätten, dann hätten wir in Deutschland wohl eine Katastrophe erlebt.“ Die Kritik an Teilen der Medien (false balance) kommt ebenfalls nicht zu kurz.

Kritisch ist anzumerken, dass das für viele Menschen wichtige Thema Long/Post COVID im Buch eigentlich nur am Rande vorkommt. Dies ist umso unverständlicher, da mit Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen eine der Expertinnen zu Long COVID/ME-CFS ebenfalls an der Charité in Berlin zu diesem Bereich forscht. Ein kollegialer Austausch täte wohl not, um dieses Thema, um das Drosten bereits bei seinen früheren Auftritten zum Beispiel bei den Podcasts meist einen großen Bogen gemacht hatte, auf einen vorderen Platz zu hieven, der ihm gebührt. So betonte kürzlich Prof. Dr. Sabine Hammer (HSF): „Erkrankte und ihre Beschwerden ernst zu nehmen und Long COVID als schwerwiegende Multisystemerkrankung anzuerkennen, ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen mit Long COVID die Chance auf eine angemessene Versorgung bekommen.“ Ebenso werden die inzwischen vorliegenden Studien zu den enormen, auch wirtschaftlichen, Kosten durch Long COVID im Buch nicht erwähnt (zum Beispiel von der OECD: The impacts of long COVID across OECD countries).

Ohnehin kommt bei Drosten und Mascolo das Problem der Multisystemerkrankung COVID-19 viel zu kurz. Im Gegenteil, Mascolo spricht sogar davon, dass COVID-19 „… tatsächlich so harmlos wie eine Grippe“ geworden sei. Mal abgesehen davon, dass eine echte Grippe eher nicht harmlos ist (wer jemals eine hatte, weiß davon zu berichten), hatte eine Untersuchung unter US-Veteranen noch im Winter 2023/24 ergeben, dass die COVID-19-­Sterberate höher war im Vergleich zur Influenza (DOI: 10.1001/jama.2024.7395). Ohnedies wird im Buch viel zu stark das Augenmerk auf die gesunkenen Krankenhausfälle und Todesfälle gerichtet. Vergessen wird dabei (und dafür gibt es inzwischen zahlreiche Studien), dass es Folgeerkrankungen (abgesehen von Long COVID) gibt. So sind offenbar die Risiken zum Beispiel für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach einer Infektion erhöht, es gibt teilweise Autoantikörper, Schäden an Gehirnen wurden durch die Bildgebung bestätigt oder das Diabetes-Typ-1-Risiko bei Kindern ist gestiegen. All das hätte ein eigenes Kapitel erfordert, denn das sind Problemfelder, die uns sicherlich noch einige Zeit beschäftigen werden. Und ob dies zu später wieder steigenden Sterbefällen führen wird, ist vollkommen unklar. In diesem Zusammenhang müssten eigentlich auch die Forderungen einiger Wissenschaftler nach sauberer Luft in Innenräumen auftauchen. Dass damit viele Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden könnten, die gleichermaßen einem kommenden Pandemie-Atemwegsvirus die Grundlage entziehen könnten, kommt in den Überlegungen der beiden nicht wirklich vor. Das wäre im Kapitel zur Zukunft absolut notwendig gewesen, zumal im Buch beispielsweise an die Cholera erinnert wird, die hierzulande mit Abwasserentsorgung und sauberem Trinkwasser ihr Ende fand. Darüber hinaus ist das ständige Betonen des Pandemieendes kritisch zu sehen. Wenn man sich die immer neuen weltweiten Wellen durch Mutationen anschaut, ist diese Einschätzung eher fraglich. Das Argument, dass es ja weniger Tote und Krankenhausaufnahmen durch weniger schlimme Varianten gebe, ist in diesem Zusammenhang zynisch, denn viele Vulnerable sind logischerweise schon tot. Wenn man es evolutionsbiologisch sehen will, könnte man sagen: Survival of the ­fittest. Doch ob dies einer modernen Gesellschaft gerecht wird, muss jeder für sich selbst entscheiden. Der Schutz der aktuell noch Vulnerablen (auch Kinder) spielt im Gedankengebäude Drostens und Mascolos jedenfalls nur eine untergeordnete Rolle, denn noch immer sind Immunsupprimierte, Krebspatienten und viele andere (zum Beispiel durch nosokomiale Infektionen) gefährdet. Statt dessen wird intensiv über die (umstrittenen) Schulschließungen diskutiert, die jedoch epidemiologisch einen signifikanten Beitrag zur Eindämmung der Ausbreitung gebracht hatten. Zur Wahrheit gehört in diesem Zusammenhang auch, dass zum Beispiel in einer großen italienischen Studie die Schulöffnungen in der Pandemie mit einer erhöhten Inzidenz akuter psychiatrischer Notfälle bei Kindern und Jugendlichen in Verbindung gebracht wurden. Die Autoren betonen, dass dies darauf hindeute, dass die Schule eine erhebliche Stressquelle mit akuten Auswirkungen auf die psychische Gesundheit sein könnte.

Wer noch einmal den ganzen Ablauf der Pandemie in seiner Breite und mit einigen Hintergrundinformationen speziell zu den politischen Entscheidungen nachlesen will, für den ist dieses Buch ideal geeignet (gerade in Verbindung mit den „RKI-Files“). Wer jedoch eine großangelegte Aufarbeitung erwartet, dürfte eher enttäuscht sein.

Alles überstanden?
Von: Christian Drosten und Georg Mascolo, Ullstein Verlag, 272 Seiten, ISBN: 978-3-550-20302-2, 24,99 Euro

 

Entnommen aus MT im Dialog 9/2024

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