Safety-II: 
Neue Wege zur Patientensicherheit

Interview mit dem Koautor
Die Fragen stellte Ludwig Zahn
Cover des Buchs „Safety-II: Neue Wege zur Patientensicherheit“
© Springer Gabler
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MT im Dialog hat bei einem der Autoren des neuen Buchs zur Patientensicherheit, Prof. Dr. med. Stefan Schröder, nachgefragt: Was ist unter Safety-II zu verstehen und wie könnte sich dies auf vermeidbare unerwünschte Ereignisse auswirken?

Prof. Schröder leitet die Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie im Artemed Krankenhaus Düren und ist Mitglied im Vorstand des Aktionsbündnis Patientensicherheit.

Herr Professor Schröder, was war der Aufhänger, ein Buch zur Patientensicherheit zu veröffentlichen?

Unser Gesundheitswesen ist ein komplexes soziotechnisches System mit interdisziplinärer und multiprofessioneller Zusammenarbeit, moderner technischer Ausstattung, vielfältigen Informationssystemen und Automatisierung. Die zunehmende Schwere der Erkrankungen der Patientinnen und Patienten und die damit einhergehende Multimedikation erhöhen die Komplexität zusätzlich. Der klassische Ansatz zur Optimierung der Patientensicherheit konzentriert sich bisher auf die Vermeidung inakzeptabler Risiken und die Reduktion inakzeptabler Ergebnisse (Zwischenfälle, Patientenschäden) durch Instrumente des klinischen Risikomanagements. Patientensicherheit wird in diesem Verständnis als Abwesenheit unerwünschter Ereignisse definiert. Eine hohe Sicherheit ist erreicht, wenn wenige oder keine unerwünschten Ereignisse oder Schäden auftreten (Safety-I). Trotz erheblicher Anstrengungen zur Optimierung der Patientensicherheit in den letzten Jahren ist die Zahl unerwünschter Ereignisse in deutschen Krankenhäusern nach wie vor hoch. Vor diesem Hintergrund erschien es uns als Autorenteam sinnvoll, in unserem Buch „Safety-II“ alternative Ansätze zur Patientensicherheit vorzustellen und zu diskutieren, die der Komplexität und Dynamik unseres Gesundheitssystems deutlich besser gerecht werden.

Wie groß ist das Problem der vermeidbaren unerwünschten Ereignisse in Deutschland aus Ihrer Sicht?

Der Medizinische Dienst des Bundes (MD Bund) hat kürzlich seine jährliche Pressekonferenz zu Behandlungsfehlern abgehalten und im vergangenen Jahr 3.160 Behandlungsfehler festgestellt, durch die Patientinnen und Patienten zu Schaden gekommen sind (https://tinyurl.com/4frydzbw). Die vom MD Bund ausgewerteten Fälle werden nur die Spitze des Eisbergs sein; es gibt viele nicht dokumentierte Fälle. Laut dem Weißbuch wird die Zahl der vermeidbaren Todesfälle von Patienten in Deutschland auf 20.000 pro Jahr geschätzt (Schrappe, 2018). Deshalb ist es das strategische Ziel des Patientensicherheitsplans der Weltgesundheitsorganisation für den Zeitraum 2021–2030, hochzuverlässige Systeme zu schaffen. Diese Systeme zeichnen sich durch vorausschauendes Handeln, Problemanalyse, Datenanalyse und konsequentes Lernen aus Erfolgen und Misserfolgen aus.

Was ist das Besondere an Safety-II? Können Sie den Ansatz (auch im Vergleich zu Safety-I) kurz erläutern?

Im traditionellen Verständnis wird Patientensicherheit als Abwesenheit von unerwünschten Ereignissen definiert. Ein hohes Maß an Sicherheit ist erreicht, wenn wenige oder keine unerwünschten Ereignisse oder Schäden auftreten (Safety-I). Safety-II stellt dagegen den überwiegend positiven Behandlungsverlauf und die dafür notwendige Anpassungsfähigkeit an die vielfältigen Herausforderungen in der täglichen Praxis in den Vordergrund. Übergeordnetes Ziel ist es, die Fähigkeit des Systems zu stärken, sich an Veränderungen und Störungen anzupassen, um seine Ziele unter erwarteten und unerwarteten Bedingungen zu erreichen. Diese Fähigkeit wird Resilienz genannt. Aus der Sicht von Safety-II sind unter den Bedingungen der Komplexität Verhaltensanpassungen zu erwarten und auch notwendig. Unter dem Motto „Was passiert, wenn nichts passiert?“ identifiziert Safety-II genau die Verhaltensweisen und Bedingungen, die im vermeintlich ereignislosen Alltag das Funktionieren des Systems garantieren. Dazu wurden in Safety-II leistungsfähige Werkzeuge zur Modellierung, Steuerung und Gestaltung soziotechnischer Systeme ent­wickelt und erprobt. Unter dem Oberbegriff Resilience Engineering werden hier alle Ansätze zusammengefasst, die Organisationen dabei unterstützen, mit Komplexität unter Druck erfolgreich umzugehen und den Herausforderungen hoher Komplexität selbstbewusst zu begegnen.

Im Buch wird das Bild eines Schiffes und seine Besatzung als Klinik benutzt. Können Sie das kurz erläutern?

Das Schiff mit seiner Besatzung steht im übertragenen Sinne für eine Klinik, eine Abteilung oder ein Pflegeteam, das durch die mehr oder weniger raue See des klinischen Alltags navigiert. Dargestellt werden die Werte, die auf dem Schiff gelten. Im Zentrum stehen die sicheren und effizienten klinischen Prozesse. Unterhalb der Wasserlinie befindet sich die gelebte Sicherheitskultur auf dem Schiff. Sie ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber dennoch vorhanden. Oberhalb der Wasserlinie findet sich als weiterer Wert die resilienzorientierte Führung. Über dem Schiff ist Resilienz das Leitprinzip, das die Werte und Instrumente in der Organisationseinheit prägt. Den Werten sind Instrumente zugeordnet, wie zum Beispiel die gelebte Sicherheitskultur als tägliches sicherheitsorientiertes Denken und Handeln. Zur Förderung und zum Erhalt der erforderlichen Kompetenzen haben sich das Crew-Resource-Management-(CRM-)Training und das Simulationstraining als Goldstandard etabliert. Das wiederholte Üben von realitätsnahen Situationen mit und ohne Simulation schafft belastbare Verhaltensweisen, die auch unter Stress abgerufen werden können. Um sichere und effiziente klinische Prozesse zu erreichen, ist es unter den Bedingungen der Komplexität unabdingbar, aus der täglichen Arbeit zu lernen und die Resilienz der Prozesse gezielt zu stabilisieren und auszubauen.

Für wen ist aus Ihrer Sicht das Buch besonders geeignet?

Dieses Buch stellt mit dem Safety-II-Konzept wertvolle Ansätze, etablierte Methoden und praktische Erfahrungen aus Forschung und klinischer Praxis zur Verbesserung der Patientensicherheit im klinischen Alltag vor. Es wurde von einem interdisziplinären Autorenteam aus Medizin und Arbeits- und Organisationspsychologie verfasst. Es richtet sich an Führungskräfte im Gesundheitswesen, Qualitäts- und Risikomanager sowie Personalentwickler in Krankenhäusern und Rettungsdiensten.

Safety-II: Neue Wege zur Patientensicherheit – Strategien, Methoden und praktische Erfahrungen
Von: Thomas Mühlbradt, Stefan Schröder, Tillmann Speer, Springer Gabler Verlag 2024, ISBN: 978-3-658-44635-2, Preis: 19,99 Euro (Softcover)

 

Entnommen aus MT im Dialog 10/2024

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