Revolutioniert die sogenannte Cardisiographie die Herzdiagnostik?
Die Cardisiographie (CSG) soll Herzkrankheiten mit einer Genauigkeit von 95 Prozent erkennen. Ist das EKG bald „Schnee von gestern“?
Das wäre wünschenswert. Denn das Elektrokardiogramm (EKG) erkennt zwar rhythmologische Herzerkrankungen, nicht aber strukturelle. Liegt beispielsweise eine Minderdurchblutung vor, spürt der Patient nichts, das EKG, falls es durchgeführt wird, liefert keine Ergebnisse. Unser CSG-Verfahren identifiziert Erkrankungsmuster dagegen schon viel früher. Die Informationen gehen dank der Kombination aus hochauflösendem 3-D-Vektor-EKG und künstlicher Intelligenz weit über den normalen EKG-Befund hinaus. Anhand dieser Daten kann der Hausarzt entscheiden, ob es weitere diagnostische Mittel wie ein CT, eine MRT oder eine Katheter-Untersuchung braucht.
Wie genau läuft die Untersuchung ab?
Ähnlich wie das altbekannte EKG. Der Patient muss sich während der Messung vier Minuten ruhig verhalten. Die aufgezeichneten Daten gelangen zu uns ins Rechenzentrum. Die neuronalen Netze, sprich die KI, beginnen zu arbeiten. Diese Analyse beansprucht drei bis vier Minuten, dann erhält der Arzt den Report.
Worauf gilt es während der Messung zu achten?
Das Wichtigste ist das Anlegeschema. Man kann die Elektroden nicht irgendwo hin kleben. Die Anordnung muss in einem rechtwinkligen, gleichschenkligen Dreieck um das Herz erfolgen. Das ist ein wichtiger Anhaltspunkt und muss trainiert werden. Denn von der Qualität dieser Geometrie hängt die Qualität der Messung ab.
Es braucht also Schulungen?
Ein gewisses Hintergrundwissen sollte vorhanden sein. Das Personal sollte beispielsweise wissen, was Vektorschleifen sind. Wir bieten ein entsprechendes Zertifizierungsprogramm an. MT, MTF und MTR dürften das Prozedere problemlos beherrschen, sie sind es schließlich gewohnt, sehr akkurat zu arbeiten.
Apropos Vektorschleifen, wie funktioniert das Verfahren?
Die Cardisiographie liefert ein dreidimensionales Vektorkardiogramm der elektrophysikalischen Eigenschaften des Herzens und erkennt mittels eines Algorithmus und neuronaler Netze (KI) Muster von Herzerkrankungen. Im Grunde schließt das Verfahren die Lücke zu Beginn des diagnostischen Pfades. Vor den Möglichkeiten von KI galt diese Methode zwar als theoretisch hochpräzise, aber als nicht praktisch umsetzbar. Mit der Kombination aus fundiertem kardiologischem Wissen, klinischen Risiko-Scores und KI-Algorithmen übertrifft die Cardisiographie die Genauigkeit eines üblichen Herz-EKGs bei Weitem: Im Rahmen einer klinischen Studie konnten wir zeigen, das 97 Prozent der an Minderperfusion erkrankten Männer als erkrankt erkannt werden, und 90 Prozent der Frauen [1].
Erkennt nicht auch das Belastungs-EKG die Minderdurchblutung?
Schon, aber auch das Belastungs-EKG misst zweidimensional und hoch ungenau.
Inwiefern?
Wird beispielsweise nichts angezeigt, lässt sich keineswegs ausschließen, dass keine Erkrankung vorliegt. Die Vektorkardiografie vermisst das Herz jedoch dreidimensional. Kleinste Veränderungen in den Zellen werden identifiziert – auch ohne Belastung. Und: Ein Belastungs-EKG ist nicht ohne Risiko für herzkranke Patienten. Ein Arzt muss deshalb während der Untersuchung stets im gleichen Raum sein.
Wer sollte eine Cardisiographie wann erhalten? Plädieren Sie zum Beispiel für eine standardmäßige Untersuchung im Rahmen der gesetzlichen Vorsorge wie Check-up-35?
Wir haben mit den Krankenkassen zwei Anwendungsszenarien vereinbart:
• Cardisiographie im Rahmen der Check-up-35-Prävention bei Vorliegen eines Risikofaktors (zum Beispiel Rauchen, Post COVID, Übergewicht oder Bluthochdruck)
• Cardisiographie bei Patienten zur Symptomabklärung bei Brustschmerzen
Seit 1. Januar 2023 übernehmen die ersten 36 gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für das Screeningverfahren. Weitere Kassen werden hoffentlich zeitnah folgen, wir führen laufend weitere Gespräche mit vielen Verantwortlichen. Die privaten Krankenversicherungen übernehmen die Kosten bereits.
Führt das neue Verfahren nicht zu einer Überdiagnostik?
Unserer Ansicht nach vermeidet Cardisiographie gerade die Überdiagnostik. Viele Kardiologen berichten uns von einer enormen Zahl an Fehldiagnosen im Bereich der Kardiologie. Knapp die Hälfte der Überweisungen an den Kardiologen seien danach überflüssig, die Patienten waren gesund. Laut GKV müssten die Hälfte der Patienten mit Brustschmerzen zum Orthopäden, nicht zum Kardiologen [2].
Und das ließe sich durch die Cardisiographie stoppen?
Davon gehen wir aus. Denn der Hausarzt kann mithilfe unserer Auswertung und klinischer Empfehlung viel sicherer entscheiden, ob der Patient an Herzproblemen leidet, zum Kardiologen überwiesen werden muss oder nicht.
Bislang werden Patienten mit Verdacht auf KHK oft mithilfe eines Katheters untersucht. Sind mit dem Verfahren auch vorschnelle Katheteruntersuchungen vom Tisch?
In Deutschland werden derzeit 900.000 Katheteruntersuchungen im Jahr durchgeführt, circa 50 Prozent dieser Untersuchungen sind nicht erforderlich [3]. Unser Ziel ist es, überflüssige Katheteruntersuchungen abzuschaffen beziehungsweise zu reduzieren.
Welche Studien belegen den Erfolg?
Die Cardisiographie wurde bisher in drei wissenschaftlichen Untersuchungen (Cardisio-Peer-Review-Studie, veröffentlicht im „Journal of Electrocardiology“, die Cardisio Validierungsstudie, durchgeführt am SANA Herzzentrums in Cottbus und die Studie von Herzzentrum in Bad Oeynhausen, in der die Cardisiographie mit Myokard-SPECT verglichen wurde) geprüft. Beide Studien attestierten der Cardisiographie eine sehr hohe Präzision und erkannten eine Sensitivität (Erkennen von Krankheiten) von über 90 Prozent. Weitere Studien, zum Beispiel zum Nutzen der Vektorkardiografie stehen unter: cardis.io/de/studien/.
Wie geht es im Falle einer Überweisung weiter? Führt der Kardiologe gegebenenfalls eine weitere Untersuchung durch?
Ja, allerdings erhalten Kardiologen, die mit uns zusammenarbeiten, eine deutlich umfassendere Auswertung. Wir stellen das Equipment im monatlichen Pay-for-Use-Modell zur Verfügung, der Hausarzt bekommt einen einfachen Report, der Kardiologe einen ausführlichen mit vielen Details.
Wie lange gibt es die Cardisiographie bereits?
Die Basis der Cardisiographie ist die Vektorkardiografie, eine mehr als 70 Jahre alte, etablierte Methode. Das Herz ist ein dreidimensionaler Körper, das EKG arbeitet jedoch zweidimensional. Deshalb hat man sich immer schon mit der Vektorkardiografie beschäftigt.
Woran hat es gehapert?
Am Aufwand. Vektoranalysen durchzuführen, das erfordert ein hohes mathematisches Know-how. Es gab immer mal wieder Ansätze, es hat aber nicht funktioniert. Ich selbst bin Informatiker von Hause aus, mein Partner, Prof. Dr. Gero Tenderich, mit dem ich das Unternehmen gegründet habe, war lange Zeit an den Herzzentren Bad Oeynhausen und Duisburg tätig und beschäftigt sich seit seinem Studium mit der Vektorkardiografie. Er hat mir davon erzählt, dass diese Vektoranalysen „der heilige Gral“ seien, aber zu kompliziert.
Eigentlich haben wir nur zur richtigen Zeit das richtige Thema aufgegriffen. Ich als Informatiker habe mir überlegt, KI einzusetzen. Vor fünf oder zehn Jahren hätten wir das nicht geschafft, die KI war nicht so weit. Wir haben 2015 beim Helmholz-Institut in Aachen einen Proof of Concept (PoC) in Auftrag gegeben. Als der positiv aussah, sind wir gestartet. Im Jahr 2016 entschieden wir, ein Team aufzubauen.
Arbeiten Sie mit einem Deep-Learning-Algorithmus?
Nein, wir setzen auf Supervised Learning. Wir extrahieren aus Daten, die wir sammeln, etwa von Patienten, die im MRT waren oder eine Katheteruntersuchung hatten. Wir analysieren die Daten, legen Parameter fest, die wir ausrechnen, stellen dann Signifikanzen dieser Parameter in Bezug zu bestimmten Erkrankungen fest. So entsteht eine Matrix aus verschiedenen Parametern. Und mit diesen Parameterinformationen füttern wir unsere neuronalen Netze, sprich die KI. 25.000 neuronale Netze, die hintereinandergeschaltet, werten die komplexe Matrix – 3,2 Millionen Datenpunkte pro Aufnahme – aus.
Warum meiden Sie das Deep Learning?
Weil wir wissen möchten, warum unsere Ergebnisse zustande kommen, das ist bei Deep Learning nicht nachzuvollziehen. Dazu kommt das Regulatorische. Das neue EU-Medizinproduktegesetz tut sich extrem schwer mit Deep Learning. Denn man kann nie garantieren, dass der Algorithmus immer alles richtig macht.
Kommen Sie aus der Medizintechnik?
Nein, ich habe mich vor allem auf Software für Banken spezialisiert, aber KI war schon immer mein Schwerpunkt. Wir haben ein tolles Team: Physiker, Mathematiker, Medizinprodukt-Experten, Kardiologen, ein bunter Haufen.
In welchen weiteren Bereichen könnte das Verfahren eingesetzt werden?
Von der Gefäßsteifigkeit über Pulsfrequenzanalyse bis hin zu allen Anwendungen aus dem internistischen Bereich sind die Screenings denkbar. Aber derzeit konzentrieren wir uns klar auf die Kardiologie. Es gibt so viele verschiedene Arten von Rhythmusstörungen, die sich per Cardisiographie ganz einfach identifizieren lassen.
Meik Baumeister
Mitbegründer und Geschäftsführer der Cardisio GmbH, ist überzeugt, dass das mithilfe von künstlicher Intelligenz entwickelte herzdiagnostische Verfahren Cardisiographie die Kardiologie revolutioniert. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Frankfurt am Main. Weitere Standorte sind Berlin und San Francisco. Cardisio beschäftigt heute 36 Mitarbeitende.
Literatur
1. Braun T, Spiliopoulos S, Veltman C et al: Detection of myocardial ischemia due to clinically asymptomatic coronary artery stenosis at rest using supervised artificial intelligence-enabled vectorcardiography A five-fold cross validation of accuracy. Journal of Electrocardiology 2020; 59: 100–5.
2. NVL Chronische KHK. 2022. Tabelle Ursache Brustschmerz in der hausärztl. Versorgungsebene; 17.
3. Gemeinsamer Bundesausschuss: Qualitätsreport 2019; 65
Entnommen aus MT im Dialog 5/2023
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