Reanimation, Anästhesie und ­Epidemiologie der Cholera

Der englische Arzt John Snow (1813–1858)
Christof Goddemeier
Zeitgenössische Karte mit einem Foto von John Snow
John Snow, M. D. © [Benjamin Ward Richardson]. Wellcome Collection. https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/, keine Änderung
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Man hat John Snow einen „voll­ständigen Arzt“ (David Shephard) genannt und meinte damit, dass er auf jedem Gebiet der medizinischen Heilkunde ausgebildet war.

Er beschäftigte sich mit der Wiederbelebung von Neugeborenen, die tot zur Welt kamen, führte als einer der Ersten die Narkose mit Äther und Chloroform ein und war 35 Jahre vor der Entdeckung des Choleraerregers Pionier in der epidemiologischen Erforschung der Cholera. Als er seine Tätigkeit als Arzt begann, war die experimentelle Medizin methodologisch noch auf den einzelnen Patienten bezogen. Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen ging Snow anders vor. Ausgehend von einem medizinischen oder sozialen Problem studierte er die dazu bekannte Literatur und führte Versuche mit Tieren durch. Dabei leitete ihn theoretisches und wissenschaftliches Interesse, doch immer mit dem Ziel, eine praktikable Lösung für das jeweilige Problem zu finden.

In den 1840er-Jahren kamen den Statistiken zufolge fünf von hundert Neugeborenen tot zur Welt. Viele von ihnen starben an Asphyxie (Atemstillstand) unmittelbar zum Zeitpunkt der Geburt. Man hatte bereits verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Neugeborenen wieder zum Leben zu erwecken, etwa Benetzen des Gesichts mit kaltem Wasser, Eintauchen in warmes Wasser, Mund-zu-Mund-Beatmung, Beatmung mit einem Blasebalg sowie Reizung der Haut mit elektrischem Strom. John Snow fand all diese Maßnahmen verdienstvoll, aber sie bargen jeweils nicht zu unterschätzende Risiken. Für ihn war die Atmung „essentiell für das Leben des gesamten Königreichs der Tiere“. Am geeignetsten schienen ihm deshalb Maßnahmen, die direkt auf eine Wiederherstellung der Atmung abzielten. Dabei befürchtete er, dass die bei der Mund-zu-Mund-Beatmung insufflierte Luft zu viel Kohlendioxid enthalten und die Lungen des Babys schädigen könnte.

Beatmungsgerät für Neugeborene

Irgendwann zwischen 1839 und 1841 tötete Snow ein Meerschweinchen durch Ertränken. Eine Stunde nach dem Tod des Tieres begann er mit der Sektion. Das Herz stand still, doch zu seiner Überraschung beobachtete er eine „leichte wurmartige Bewegung des rechten Vorhofs“. Er eröffnete die Luftröhre des Tieres und begann mit einer künstlichen Beatmung. Der linke Vorhof füllte sich mit Sauerstoff-­reichem Blut, und die Herzkammern kontrahierten 45 Minuten lang schwach, aber rhythmisch. Im Oktober 1841 veröffentlichte Snow seine Ergebnisse bei der Westminster Medical Society und schlug ein Beatmungsgerät für Neugeborene vor. Neu daran war, dass sowohl über die Nase frische Luft zugeführt als auch über den Mund verbrauchte Luft abgesaugt wurde. Zudem konnte die aus der Atmosphäre zugeführte Luft mit warmem Wasser angewärmt werden.

John Snow wurde als Ältester von 13 Ge­schwistern in York geboren. Der Vater war Bergmann, konnte aber durch den Ankauf von Land die finanzielle und soziale Situation der Familie verbessern. Bereits mit 14 Jahren be­gann Snow eine Ausbildung bei William Hardcastle, der in Newcastle upon Tyne als Chirurg, Geburtshelfer und Apotheker tätig war.

Bis ins späte 18. Jahrhundert war die Cholera in Westeuropa unbekannt. Wahrscheinlich hat sie in Asien ihren Ursprung, 1817 wurden erste Fälle außerhalb Asiens gemeldet. 1831/32 kam es in England zu einer ersten Epidemie, die etwa 23.000 Menschen das Leben kostete. Der 18-jährige Snow arbeitete in der Pflege von Erkrankten mit und sammelte erste Erfahrungen im Umgang mit der Krankheit. Nach Assistenzjahren beim Arzt John Watson und dem Apotheker Joseph Warburton ging er 1836 nach London und studierte Medizin. Zwei Jahre später legte er seine Examina als Arzt und Apotheker ab, 1844 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert. Bereits mit 17 Jahren las er John F. Newtons „The Return to Nature: A Defence of the Vegetable Regime“ (1811). Newton beschrieb das Wasser, das die Londoner trinken, als „voll von septischem Material“. Snow ernährte sich seitdem vegetarisch, seit 1836 trank er auch keinen Alkohol. Wasser nahm er nur in destillierter Form zu sich, denn Wasser aus dem Wasserhahn war seiner Ansicht nach nicht vegetarisch.

Narkose bei Menschen

Vor Entdeckung und Einführung der Anästhesie bedeutete Chirurgie, dass Eingriffe an wachen Patienten vorgenommen wurden. Die bissen entweder die Zähne zusammen oder sie schlugen um sich, schrien vor Schmerz und mussten festgehalten werden. Chirurgen mussten vor allem unempfindlich gegenüber den Schreien ihrer Patientinnen und Patienten und schnell sein. Denn der Schock der Operation konnte im schlimmsten Fall zum Tod der Betroffenen führen. Bereits um 1795 fand der Apotheker und Chemiker Humphry Davy, dass Lachgas (Distickstoffmonoxid) Schmerzen ausschalten konnte, 1800 veröffentlichte er seine Ergebnisse. Die Eigenschaften von Lachgas waren bekannt, es wurde auf Jahrmärkten und von jungen Leuten zum Vergnügen eingesetzt. Henry Hill Hickman operierte 1824 Tiere mit einer Kohlendioxid-Narkose, ohne dass die Tiere Schmerzen litten. Aber warum dauerte es etwa 50 Jahre, bis eine Narkose bei Menschen angewendet wurde? David Wootton zufolge hatten Chirurgen durch Jahrhunderte bestimmte Fertigkeiten erworben, die für ihr Selbstbild unerlässlich waren. Dazu gehörten stoische Ruhe, Robustheit und Schnelligkeit. Von diesem Selbstbild wollten sie sich nur ungern verabschieden. So wurde Anästhesie als Verrat oder Betrug aufgefasst, denn die mühsam erworbenen Eigenschaften der Chirurgen waren nun nicht mehr gefragt. Zudem galt die Inhalation von Gas als un­seriös und man befürchtete, den ohnehin durch die Operation beanspruchten Organismus noch mehr zu belasten.

1842 wurde die erste Äthernarkose am Menschen angewendet, vier Jahre später führte Thomas Morton in Boston die erste erfolg­reiche öffentliche Narkose mit Distickstoffmonoxid durch – die Geburtsstunde der modernen Anästhesie. Im gleichen Jahr fand auch in London eine Demonstration statt, bei der Snow anwesend war. Sofort machte er sich an die Arbeit, fand Dosis-Wirkungs-Beziehungen und wendete das neue Verfahren bei Operationen in Londoner Kliniken an. 1847 veröffentlichte er drei Arbeiten und eine Monografie zum Thema („On the Inhalation of the Vapour of Ether in Surgical Operations“). Im selben Jahr wurde die anästhesierende Wirkung von Chloroform bekannt. Auch mit dieser Substanz machte Snow sich rasch vertraut, 1853 und 1857 nahm er geburtshilfliche Chloroform-Narkosen bei Queen Victoria vor.

Analyse des Choleraausbruchs

In der hippokratischen Medizin und der Miasmenlehre (gr. miasma = übler Dunst, Verunreinigung, Ansteckung) herrschte die Vorstellung, dass Seuchen durch verunreinigte Luft übertragen werden. Damit konnte Snow nie etwas anfangen. Er nahm immer schon an, dass die Menschen durch das Wasser, das sie trinken, krank werden. Doch bis zur Erkenntnis, dass Krankheiten wie die Cholera durch ­Keime verursacht werden, war es ein weiter Weg. 1849 kam es zu einer zweiten schweren Choleraepidemie, an der in England etwa 53.000 Menschen starben. Im August veröffentlichte Snow mit ­William Budd „On the Mode of Communication of Cholera“. Die ­Fälle, über die er berichtete, waren nicht vereinbar mit der Miasmenlehre. Der Tod etwa des Arbeiters John Barnes in Moor Monkton nahe Yorkshire, das von Cholera gar nicht betroffen war, konnte Snow zufolge nur durch Hand-zu-­Mund-Infektion verursacht worden sein: Barnes hatte die Kleidung seiner in Leeds an Cholera gestorbenen Schwester angefasst und sich danach nicht die Hände gewaschen.

In zwei identischen Gassen in Horsleydown nahe London waren in einem Häuserblock elf Menschen an der Seuche gestorben, in einem anderen Block nur einer. Snow fand, dass in dem betroffenen Block die Abwasserkanäle übergelaufen und verunreinigtes Wasser in den Brunnen gelangt war, aus dem die Menschen ihr Trinkwasser holten. Er identifizierte sechs weitere Herde – alle konnten nur damit erklärt werden, dass die Cholera das Trinkwasser befiel. Und mit einem lebenden Keim, der eben nicht überall in gleicher Konzentra­tion vorhanden war, ließ sich auch erklären, warum nicht alle erkrankten, die verunreinigtes Wasser tranken. Snow erläuterte den Sachverhalt mithilfe des Bandwurms: „Die Eier des Bandwurms gelangen zweifellos durch die Abwasserkanäle in die Themse, aber daraus folgt auf keinen Fall, dass jeder, der ein Glas dieses Wassers trinkt, eins der Eier schluckt.“ Jakob Henle (1809–1885) hatte in „Pathologische Untersuchungen“ (1840) bereits die Bandwurminfektion als Analogie zur Infektion mit einem Keim benutzt. Snow hat sich nie direkt auf Henle bezogen, aber er hat ihn vermutlich gelesen.

1853/54 kam es zu einer dritten Choleraepidemie. Sie forderte erneut 23.000 Opfer, doch zugleich ermöglichte sie Snow, seine Hypothese mit einer großen Fallzahl zu überprüfen – die Stadt London war sozusagen sein Labor. Die Stadtviertel erhielten ihr Trinkwasser von verschiedenen miteinander konkurrierenden Gesellschaften. Manche entnahmen es direkt und ungeklärt aus der Themse, andere bezogen es aus sauberen Quellen. Die unterschiedlich versorgten Häuser lagen teilweise unmittelbar nebeneinander. Das Ergebnis: In 40.046 Häusern, die verunreinigtes Wasser der Southwark and ­Vauxhall Company erhielten, starben 286 Menschen, in der gleichen Anzahl Häuser, die sauberes Wasser von der Lambeth Company ­bezogen, starben lediglich vierzehn Menschen. Und diese hatten ­vermutlich Freunde oder Bars in der Nachbarschaft besucht und dort verunreinigtes Wasser ge­trunken. Auch die Analyse der Berufstätigkeit der Verstorbenen ergab interessante Ergebnisse: Seeleute waren gewohnt, das Wasser direkt aus der Themse zu trinken – unter ihnen war die Todesrate hoch. Brauereiarbeiter tranken dagegen Bier statt Wasser, und niemand von ihnen starb an der Cholera.

„The cholera near Golden-square, and at Deptford“ (1854) enthält eine exakte Analyse eines einzelnen Krisenherdes in der Broad Street. Auf der Suche nach einer möglichen Quelle der Verunreinigung stieß Snow auf eine Wasserpumpe, die sich mitten im Zentrum des Ausbruchs befand. Nachdem die lokale Behörde die Pumpe auf Snows Bitte aus dem Verkehr gezogen hatte, sanken die Todeszahlen und innerhalb von 24 Stunden starb niemand mehr. Sowohl die Anhänger der Miasma-Lehre als auch Snow nahmen an, dass menschliche Exkremente bei der Verbreitung der Cholera eine Rolle spielten, doch sie zogen daraus unterschiedliche Schlüsse. 1832 gab es in London nur wenige Toiletten mit Wasserspülung. Während die „Miasmatiker“ darauf drängten, ihre Zahl zu erhöhen, war für Snow klar: Nur durch konsequente Reinigung des Trinkwassers, nicht durch mehr Wasserklosetts, ließ sich die Zahl der Erkrankten und Toten vermindern.

In der zweiten Auflage der „Mode of Communication of Cholera“ (1855) erstellte Snow eine detaillierte Karte, auf der die Todesfälle und ihre Nähe zur Wasserpumpe in der Broad Street eingezeichnet waren. Seine Karte gilt als eine der ersten „spatial analysis“ (Raum-Analyse). Sogenannte „Voronoi-Diagramme“ (nach dem ukrainischen Mathematiker Georgi Woronoi [1868–1908]) dienen dazu, proximale Regionen um einzelne Datenpunkte zu definieren. Zu seinen Lebzeiten konnte Snow seine Zeitgenossen nicht überzeugen. Erst einige Jahre nach seinem Tod wurden seine Annahmen bestätigt.

 


Literatur (Auswahl)

1. Koch T: Disease Maps. Epidemics on the ground. Chicago: The University of Chicago Press 2011.

2. Shephard DA: John Snow, Anaesthetist to a Queen and Epidemiologist to a Nation: A Biography. Cornwall (Canada): York Point Publishing, 1995.

3. Vinton-Johansen P, et al.: Cholera, Chloroform and the Science of Medicine. A Life of John Snow. New York: Oxford University Press, 2003.

4. Wootton D: Bad Medicine. Darin: John Snow and Cholera. New York: Oxford University Press, 2006.


 

Entnommen aus MT im Dialog 11/2024

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