Jedes Jahr erleiden etwa 15 Millionen Menschen einen Schlaganfall. Von ihnen sterben fünf Millionen, fünf Millionen weitere leben danach mit bleibenden Behinderungen wie Teillähmung und Sprechstörungen. Die Ursache von Schlaganfällen sind Blutungen oder Gerinnsel, die ein Blutgefäß verstopfen. Ein junges niederländisches Unternehmen will nun einen schnelleren Therapiestart und somit bessere Outcomes ermöglichen – dank künstlicher Intelligenz (KI).
Die Versorgung der rund 45.000 Schlaganfallpatienten in den Niederlanden und der Betroffenen weltweit hat sich das 17-köpfige Team von Nico.lab in Amsterdam zum Ziel gesetzt. Nico.lab steht für „Neurovascular imaging core Laboratory“. Informatiker, Ärzte, Medizinphysiker und Business-Kollegen arbeiten in den Büros auf dem AMC-Campus der Universitätsmedizin (UMC) in Amsterdam. Aus dem Universitätsklinikum ist Nico.lab hervorgegangen.
Einer der KI-Spezialisten ist Renan Barros, Doktorand im Biomedical Engineering der Bioverfahrenstechnik. Spezialisiert hat er sich auf die Bildanalyse im Kontext von Schlaganfällen – insbesondere auf Algorithmen zur Analyse für Forschungszwecke. „Wir haben 2012 unseren ersten Algorithmus entwickelt“, erinnert sich der Fachmann. „Im Jahr 2015 haben wir die Firma gegründet. Seit Ende 2016 bringen wir unsere Entwicklung und Expansion mit konkreten Lösungsumsetzungen voran.“ Alles begann mit der Einbindung von Algorithmen in eine klinische Studie zur Effektivität von Endovascular Treatment (EVT). Bei der endovaskulären Therapie nutzt man die Oberschenkelarterie für den Zugang zum Hirn, um das Blutgerinnsel zu entfernen.
Die Algorithmen dienten zur Automatisierung von Messungen bei den Studienpatienten. Barros: „Organisatoren anderer klinischer Studien zeigten in der Folge ein hohes Interesse an dieser digitalen Unterstützung, die anders als Menschen keine Ermüdung zeigt und somit Fehler vermeiden hilft.“ Während zwei Experten unterschiedliche Meinungen haben können, kommen laut dem Doktoranden Algorithmen immer zum selben Ergebnis, das auf der Kompetenz der Software-Mitgestalter aus der Medizin beruht.
„Neben der Bildanalyse erkannten wir auch ein großes Potenzial für eine Optimierung klinischer Arbeitsabläufe im Kontext von Schlaganfällen“, so Barros weiter. „Sogar in den Niederlanden, die für die Schlaganfallversorgung gute Voraussetzung bieten, gibt es hierbei nämlich eine Reihe von Herausforderungen.“
Abb. 2: Blutung vom Radiologen übersehen
Für die Feststellung der Schlaganfallursache kommt meist eine CT-Untersuchung zum Einsatz. CT-Bilder lassen sich schneller und kostengünstiger anfertigen als MR-Bilder. Außerdem sind viele der eingelieferten Patienten bewusstlos, weshalb man sie nicht nach Implantaten et cetera als Sicherheitsmaßnahme beim potenziellen Einsatz von MR befragen kann. Im Durchschnitt dauert es eineinhalb Stunden ab der Akquise der CT-Bilder bis zur Therapieentscheidung. Handelt es sich um ein Gerinnsel, kommt umgehend ein Blutverdünnungsmittel zur Verwendung. Diese Entscheidung muss sicher sein, da die Gabe eines Verdünnungsmittels bei einer Blutung ernste Nachteile bringt.
Konsistente diagnostische Qualität
Der Einsatz der Algorithmen von Nico.lab ermöglicht hier laut Barros bei der Diagnose eine konsistent höhere Präzision, als Ärzte sie erzielen. Die Software bildet die Region der Blutung ab und liefert dem Arzt die Grundlage für die Analyse. Hierzu dient ein Viewer, der die Darstellung für diese Zwecke beschleunigt.
Schlaganfälle geschehen auch zu schwierigen Zeitpunkten wie spät nachts sowie an Orten, wo es zwar Geräte und MTA gibt, aber keinen Zugang zu qualifizierten Radiologen vor Ort. Mit einem Radiologen aus der Distanz diagnostische Bilder mit hohem Datenvolumen auszutauschen, ist ebenfalls oft herausfordernd.
Dabei zählt jede Minute bis zur korrekten Therapieentscheidung. Nico.lab will daher die Zeit bis zur Diagnose deutlich reduzieren. Barros: „Mit jeder Minute bis zum Therapiestart verlieren Patienten einen Monat gesunden Lebens.“ Der Grund dafür ist, dass der Mangel an Versorgung über die Blutbahnen zum Absterben von Gewebe führt.
Abb. 3: Thrombus vom Radiologen übersehen
So entstand die Lösung
Als Basis für seine Datenmodelle und Algorithmen nutzte das Team unter anderem die Patientendaten aus Doktoranden-Recherchen. Barros, der selbst aus Brasilien kommt, erläutert: „Es gibt dort eine große Fülle an relevanten Patientendaten, die für Forschungszwecke eingesetzt werden; auch Daten aus Kliniken in den USA und weiteren Ländern haben wir verwendet.“
Er fährt fort: „Auch für das Feintunen der Algorithmen in unseren Kundenhäusern nutzen wir heute deren Daten – um hausindividuelle Lösungen zu ermöglichen. So sind Parameter-Settings und Protokolle bei Faltungskernen, Kontrasttypen und Rauschen der CTs meist unterschiedlich und erfordern für optimale Resultate entsprechende Anpassungen unserer Software. Die Standardprotokolle der CT sind bereits abgedeckt. Keine Softwareinstallation ist nötig.“
Nur etwa 1.000 Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall je Krankenhaus jährlich – das ergibt in den Niederlanden zu wenige reale Trainingsdaten für Algorithmen. Nico.lab nutzt daher die Datenbasen von Unikliniken, aber auch „synthetische Daten“, die auf Basis von Big-Data-Analysen und mathematischen Formeln virtuelle Blutgefäße generieren, um den Computer komplexe Gefäße etwa mit Bifurkationen und pathologische Konstellationen lernen zu lassen. Die Interpretation von 4-D-Bildern (3-D plus Faktor Zeit) zeigt die Durchblutungscharakteristiken im Hirn und erlaubt die Generalisierung für neue Fälle im Alltag der Krankenhäuser, die selbst keine 4-D-Bilder generieren können.
Abb. 4: StrokeViewer interface
Akzeptanz für die Lösung
Wie kommt das System an? Barros sagt: „Die Radiologen freuen sich, dass ihnen unsere Software ein Gutteil ihrer Arbeitsbelastung abnimmt, insbesondere bei den eher üblichen Fällen. Den Kaufleuten in der Krankenhausführung demonstrieren wir, dass unsere Algorithmen die Frist bis zum Therapiestart verkürzt und somit bessere Outcomes ermöglicht. Dies verringert die Kosten – und an diesen Einsparungen partizipieren wir. Auch bei den IT-Fachleuten kommen wir gut an, weil unser System einfach mit jedem CT und PACS kommuniziert.“
Die Benutzerfreundlichkeit ergibt sich daraus, dass die Arbeitsabläufe automatisiert sind: Per Knopfdruck werden beim jeweiligen Fall die Daten auf den dedizierten Server für dieses Krankenhaus bei Nico.lab übertragen. Auf einem Web Viewer werden die Ergebnisse der Analyse angezeigt. Aus diesem Viewer heraus lassen sich die Ergebnisse mit Behandlungspartnern etwa bei der Überweisung komplexer Fälle austauschen. Datensicherheit und Datenschutz sind laut dem Doktoranden mit höchster Priorität abgedeckt.
Was haben MTA zu leisten?
Welchen Einfluss nimmt das System auf die Arbeit der MTA? Barros erklärt: „Das Design der Lösung ist bedienerfreundlich und nimmt so wenig Einfluss auf den Workflow wie möglich.“ MTA legen die DICOM-Destination im CT erst als PACS, dann als Nico.lab fest. Nach diesem einen Klick erfolgen sämtliche weiteren Schritte vollautomatisch.
In den Niederlanden arbeitet bereits eine Reihe von Krankenhäusern mit dem KI-System. In der Charité kam sie zu Forschungszwecken zum Einsatz. Derzeit läuft ein Börsengang, weshalb Barros manche Fragen nicht beantworten kann.
Entnommen aus MTA Dialog 9/2019
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