Michaelis-Menten-Kinetik

Leonor Michaelis und Maud Menten
Heinz Fiedler
Michaelis-Menten
Abb. 1: Michaelis-Menten-Sättigungskurve für eine Enzymreaktion, die die Beziehung zwischen der Substratkonzentration und der Reaktionsgeschwindigkeit zeigt. © Thomas Shafee – Own work, CC BY 4.0
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Bereits im 19. Jahrhundert wurde das Phänomen beobachtet, dass bestimmte Reaktionen durch Extrakte, Körperflüssigkeiten oder Mikroorganismen stark beschleunigt werden.

Eduard Buchner (Nobelpreis 1907) und Moritz Traube etablierten den Enzymbegriff für hochmolekulare, reaktionsspezifische und nicht an Zellen gebundene Katalysatoren, die die Reaktionsgeschwindigkeit um den Faktor 108 bis 1020 erhöhen. Es fehlte aber noch die physikalisch-chemische Bearbeitung der Vorgänge. Die Bestimmung der katalytischen Aktivität (Substratverbrauch oder Produktbildung) der Enzyme und die Nutzung der Enzyme zur Substratbestimmung haben die klinische Diagnostik entscheidend bereichert.

Victor Henri (1872–1940, ein deutsch-französischer Biochemiker russischer Abstammung) publizierte 1902/3 erste Artikel zur Enzymkinetik. In einer komplizierten Formel hatte er verschiedene Varianten mathematisch erfasst, aber experimentell die Einflüsse von pH-Wert und Mutarotation optisch aktiver Verbindungen nicht berücksichtigt. Henris Arbeiten wurden zwar von einzelnen Biochemikern zitiert, aber erst 1913 konnten Leonor Michaelis (1875–1949)[1] und Maud Menten (1879–1960)[2] durch genauere und vereinfachte Ableitung, Interpretation und experimentelle Bestätigung der Messungen an der Invertase (Saccharase) den entscheidenden Erfolg erzielen [3–6].

Die Geschwindigkeit einer Enzymreaktion hängt von der Konzentration der Reaktionsteilnehmer ab: Enzym E und Substrat S bilden einen spezifischen Komplex ES („Schlüssel-Schloss-Prinzip“ nach Emil Fischer). Die Geschwindigkeit V ist von der S-Konzentration [S] abhängig und erreicht bei S-Sättigung des Enzyms die maximale Geschwindigkeit Vmax . Bestimmend ist der Zerfall von ES zu E und Produkt [P], nur im Fließgleichgewicht sind Bildungs- und Zerfallsgeschwindigkeit gleich groß.



KM ist die sogenannte Michaelis-Menten-Konstante (gelegentlich auch Henri-Michaelis-Menten-Konstante genannt). Für [S] = KM erreicht V die halbmaximale Geschwindigkeit (für die meisten Enzyme bei 10–5 bis 10–3 mol/l) und KM ist ein inverses Maß für die Affinität von E und S (die sogenannte Assoziationskonstante). Durch doppelreziproke Auftragung der gemessenen Hyperbel kann man KM und Vmax aus der Steigung der Geraden KM/Vmax , aus dem Ordinatenschnittpunkt 1/Vmax oder dem negativen Schnittpunkt mit der Abszisse –1/KM ablesen (Lineweaver-Burk-Plot) oder heute direkt mittels Computerprogrammen.

Michaelis und Menten hatten auch bereits erkannt und berechnet, dass die Aktivität der Enzyme durch Effektoren, wie den kompetitiven Inhibitoren, verändert werden kann. Die ermittelten Inhibitionskonstanten KI geben die Affinität des Enzyms zum Hemmstoff analog wie KM zu [S] wieder. Die Ergebnisse sind wichtig für die Entwicklung von Arzneistoffen. Das Modell wurde später auf Antigen-Antikörper-Bindung, Protein-Protein-Interaktion und DNA-DNA-Hybridisierung übertragen.

Leonor Michaelis wurde 1875 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin geboren [1]. Ab 1893 studierte er Medizin in Freiburg und Berlin und promovierte nach vier Jahren. Danach war er Assistent bei Paul Ehrlich (histochemische Färbungen, Janusgrün für Mitchondrien), Moritz Litten und Victor von Leyden. Da er nur eine außerordentliche Professur erhielt, wechselte er als Leiter des Bakteriologischen Labors an das Städtische Urban-Krankenhaus in Berlin. Dort richtete er mit seinem jüdischen Freund und späteren Nachfolger Peter Rona (1945 ermordet oder Selbstmord) ein winziges chemisches Labor ein, wo jedoch zahlreiche, auch ausländische, Gäste (etwa 40 Personen bis 1920) mit ihm arbeiteten und von ihm lernten. 1902 hatte er mit Carl Gutmann bei der seltenen renalen Malakoplakie die sogenannten Michaelis-Gutmann-Körperchen entdeckt: Reste von Phagozyten, die Bakterienreste sowie Ca und Fe enthalten.###more###

Seine Chancen für eine Karriere in Deutschland waren schlecht: Die Regierung in Preußen bevorzugte Nichtjuden in gehobenen Stellungen. Außerdem hatte Michaelis 1914 Emil Abderhalden (ein einflussreicher Wissenschaftler) wegen der falschen Theorie der sogenannten Abwehrfermente und der daraus abgeleiteten Schwangerschaftstests scharf und berechtigt kritisiert (seine Kritik wurde international von Donald van Slyke bestätigt) [7]. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die verhängnisvolle und Nazi-freundliche Politik Abderhaldens vollständig bekannt. Deshalb wurde 2011 das „Abderhalden-Haus“ des Department of Biology der Humboldt-Universität in „Leonor-Michaelis-Haus“ umbenannt [5]. Die Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik der DDR hatte bereits früher einen Leonor-Michaelis-Preis ausgelobt.

1922 folgte Michaelis einem einjährigen Ruf an das Aichi Prefectural Medical College (Universität Nagoya), baute den Lehrstuhl für Biochemie auf und führte potentiometrische Messungen durch. Nach mehreren Vertragsverlängerungen wechselte er auf Vorschlag des Nobelpreisträgers Jacques Loeb an die John-Hopkins-Universität in Baltimore und 1929 ans Rockefeller Institut für Medizinische Forschung in New York

Er arbeitete weiter über Wasserstoffionen-Konzentration beziehungsweise -Aktivität, amphotere Elektrolyte und Elektrophoresetechniken. Neu erschloss er Gebiete wie Redoxreaktionen, Schwermetalle als Katalysatoren und mit Sam Granick die (Apo-)Ferritine [8]. Seine erste Publikation über die damals unbekannten freien Radikale wurde zunächst zurückgewiesen. Nachdem er (durch Paramagnetismus) sowie andere Forscher die Ergebnisse bestätigt hatten, wurde er von der Zeitschrift als Gutachter für Radikalforschung eingesetzt. Seine Vielseitigkeit erkennt man auch daran, dass er die Löslichkeit von Keratin in Thioglykolsäure als grundlegendes Prinzip für Dauerwellen erkannte.

Abb. 2: Änderungen der Konzentrationen über die Zeit für Enzym E, Substrat S, Komplex ES und Produkt P | © U+003F, own work, CC0

Maut Menten (Maut Leonora Menten) studierte Medizin an der Universität Toronto und schloss 1911 als eine der ersten Frauen Kanadas mit einer Promotion ab [2, 5, 6]. Da Frauen damals in Kanada keine Forschung durchführen durften, musste sie in die USA ausweichen: Rockefeller Institute (Radiumbromid bei Tiertumoren) und Western University Cleveland (pH-Wert im Blut). 1912 arbeitete sie mit Michaelis in Berlin, danach bis zur Habilitation (1916) an der Universität Chicago und später an der Universität Pittsburgh, wo sie erst 1948 (!) zum Full-Professor der Pathologie ernannt wurde. 1951 kehrte sie nach Kanada an das British Columbia Medical Research Institute zurück.

Außer der bekannten Erfolge bei der Enzymkinetik wurde ihr Name trotz mehr als 100 Publikationen teilweise vergessen: Azofarbstoff-Reaktion der alkalischen Phosphatase, bakterielle Toxine und deren Nutzung zur Immunisierung sowie erste elektrophoretische Trennung von fetalem und adultem Hämoglobin [9]. Unermüdlich war sie als Pathologin und Klinikerin mit der Diagnostik und Therapie ihrer Patienten, besonders in der Kinderabteilung, beschäftigt. Sie wird als „petite dynamo of a woman“ beschrieben (Pariser Hüte, Buster Brown shoes usw.), spielte Klarinette, malte für Kunstausstellungen, ging Bergsteigen und auf Arktisexpeditionen und sprach mindestens sechs Sprachen. Posthum wurde sie in die Canadian Medical Hall of Fame aufgenommen. Ein Lehrstuhl und eine Gedächtnisvorlesung an der Universität Pittsburgh wurden nach ihr benannt.

Literatur

1.     https://de.wikipedia.org/wiki/Leonor-Michaelis.
2.     http://en.wikipedia.org/wiki/Maud_Menten.
3.     Michaelis M, Menten M: Die Kinetik der Invertinwirkung. Biochem Z 1913; 49: 333–69.
4.     Briggs GE, Haldane JBS: A note on the kinetics of enzyme reaction. Biochem J 1925; 19: 338-9.
5.     Deichmann U, Schuster S, Mazat JP, Cornish-Bowden A: Commemorating the 1913. Michaelis-Menten paper. Die Kinetik der Invertinwirkung: three perspectives. FEBS J 2014; 281: 435-63.
6.     Leonor Michaelis and Maud Menten. Chemistry in History. Chemical Heritage Foundation Philadelphia.
7.     Michaelis L, von Langermarck L: Die Abderhaldensche Schwangerschaftsdiagnose. Dtsch Med Wochenschr 1914; 7: 316–9.
8.     Kresge N, Simoni RD, Hill RL: The characterization of ferritin and apoferritin by Leonor Michaelis and Sam Granick. J Biol Chem 2004; 279: e9–11.
9.     Andersch MA, Wilson DA, Menten ML: Sedimentation constants and electrophoretic mobilities of adult and fetal carbonylhemoglobin. J Biol Chem 1944; 153: 471–7.

Entnommen aus MTA Dialog 10/2016

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