Kennen Sie die Geschichte der Radium Girls?

Nico Janz
Titelbild zum Beitrag über die Geschichte der sogenannten Radium Girls
Radium Girl Statue in Ottawa, Illinois (USA) © EJRodriquez Photography, stock.adobe.com
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Ende des 18. Jahrhunderts gab es entscheidende Umbrüche in der Physik und in der Chemie. Die Entdeckung der Röntgenstrahlen durch den deutschen Physiker Wilhelm Röntgen (1845 bis 1923) zeigte, dass gewisse Strahlen verschiedenes Material zwar durchdringen, aber auf fotografischen Platten festgehalten werden können. Dieses Phänomen und die Entdeckung der Radiowellen durch die Physiker James Maxwell (1831 bis 1879) und Heinrich Hertz (1857 bis 1894) regten unter anderem den französischen Physiker ‧Henri Becquerel (1852 bis 1908) an, zu untersuchen, ob die Lumineszenz einiger Mineralien auf Röntgenstrahlen beruhte.

Becquerel erkannte 1896, dass Uranverbindungen ohne Zufuhr von Energie selbstständig Fotoplatten belichten konnten. Das bedeutete, dass Uransalze eine weitere unerforschte Art von Strahlen emittierten.

Furchtlos und produktiv ergründete die polnisch-französische Physikerin Marie Curie (1867 bis 1934) diese geheimnisvolle Strahlung. Curies Labor war eine Mischung aus Kohlenkeller und Stall. In ihrer Laborbaracke spürte sie aus Pechblende (Uraninit) die rätselhafte Strahlung des Schwermetalls Uran nach. Sie prägte den Begriff „Radioaktivität“ und entdeckte mit ihrem Mann Pierre Curie (1859 bis 1906) die strahlenden Elemente Radium und Polonium. Madame Curie schreibt in ihren Memoiren über diese intensive Zeit der Forschung: „Eine unserer beliebtesten Zerstreuungen in dieser Zeit waren die allabendlichen Besuche in unserem Labor. Überall leuchteten und glänzten Silhouetten der radioaktiven Substanzen in unterschiedlichen Laborfläschchen. Die glühenden Röhrchen erschienen wie Lichter einer ‚Märchenfee‘“. Der Elektroingenieur William Hammer (1858 bis 1934) besuchte Madame Curie 1902 in Paris. Er experimentierte mit einer Probe Radium, die ihm Marie Curie überlassen hatte. Es war bekannt, das Zinksulfid von radioaktiver Strahlung zum Leuchten gebracht wird. Hammer vermischte Radiumpulver, Zinksulfid (Sphalerit) mit Kleber und Wasser. Das Resultat war ein Farbstoff, der nachts von alleine leuchtete.

 

Siegeszug von „Undark“

Die Firma US Radium Corporation erwarb die Rezeptur von Hammer und verkaufte die Leuchtfarbe unter dem Markennamen „Undark“ (undunkel) zwischen 1917 und 1938. Dieser „Leuchtstoff“ wurde zum Verkaufsschlager. Hausnummern, Augen von Puppen, Fischköder, Kompasse oder auch Millionen Ziffernblätter von Armbanduhren wurden mit Undark bemalt. Als Zifferblattmalerinnen für Uhren waren besonders Frauen wegen ihrer „anmutigen Hände“ und „besonderen Gewandheit“ gefragt. In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Tausende junger Frauen in den Manufakturen eingestellt, man nannte sie die „Radium Girls“. Es war für viele junge Arbeiterinnen ein anspruchsvoller und gut bezahlter Traumjob. Die Nachfrage nach erschwinglichen Uhren, die nachts zauberhaft leuchten, explodierte. Die Region im Naugatuck Valley an der Ostküste der USA gilt wegen ihrer vielen Uhrenmanufakturen als die „Schweiz Amerikas“. Millionen Uhren wurden jährlich produziert und auch nach Europa exportiert.

Die für den Ersten Weltkrieg mit Leuchtziffern produzierten Uhren, besonders für Soldaten, wurden ein Kassenschlager. Die „Radium Girls“ arbeiteten in großen hellen Produktionshallen an kleinen Arbeitstischen. Die Kamelhaarpinsel, die die meist sehr jungen Frauen und Mädchen ab zwölf Jahren in den Fabriken benutzten, veränderten nach wenigen Strichen ihre Form. Den Arbeiterinnen wurde empfohlen, die Pinsel mit den Lippen und der Zunge wieder zu spitzen. Aus Spaß bepinselten sie ihre Zähne und Fingernägel mit Undark und zeigten einander, wie alles Bemalte im Dunkeln, zur Überraschung ihrer Mitmenschen, bei Nacht leuchtete.

 

Ein Teelöffel radioaktives Material

Spätere Berechnungen zeigten, dass die Beschäftigten wöchentlich ungefähr einen Teelöffel radioaktives Material schluckten. Die Mitarbeiterinnen ereilte ein schreckliches und dramatisches Schicksal. Unter den jungen Ziffernblattmalerinnen häuften sich unerklärliche Erkrankungen und Todesfälle. Die ahnungslosen Frauen klagten über Abgespanntheit, Entkräftung, Menstruationsbeschwerden und Depressionen und hatten alarmierende Blutbilder. Andere entwickelten kuriose Knochenbrüche. Eine junge Frau brach sich plötzlich die Beine, als sie auf der Tanzfläche war. Ein Zahnarzt berichtete von einem stark zerfressenen Kiefer einer seiner Patientinnen und vermutete, die leuchtende Farbe sei für die Erkrankung verantwortlich. Eine Zeitung berichtete im Jahr 1928, die Gebeine einer Ziffernblattmalerin hätten nach deren Exhumierung geleuchtet.

Die Verantwortlichen der Konzerne hatten den Ziffernblattmalerinnen versichert, dass sie nichts zu befürchten hätten und Arbeitsschutzmaßnahmen nicht nötig seien. Eine Korrelation zwischen den Erkrankungen und dem Radium wurde von den Produktionsfirmen vorerst verwässert und verneint. Schließlich gingen fünf Arbeiterinnen juristisch gegen ihre Arbeitgeber vor. Im Frühjahr 1928 endete der Prozess mit einem Vergleich. Die Klägerinnen erhielten eine verhältnismäßig geringe Entschädigung. Der Medienrummel und die Anschuldigungen führten allerdings zu einem Präzedenzfall, zu einem verbesserten Arbeitsschutz, Verordnungen und zu der Einführung von radioaktiven Grenzwerten. Die fünf Klägerinnen verstarben noch in den 1930er-Jahren. Auch heute noch können die Gräber der „Radium Girls“ mit Geigerzählern gefunden werden.


Literatur

1. William J. Hammer: Radium and other Radioactive Substances: Polonium, Actinium And Thorium, 1902.
2. Carole Langer (Regie), Hauptbesetzung: Marie Becker Rossiter, Charlotte Nevins Purcell: Dokumentarfilm „Radium City“, 1987.
3. Kate Moore: The Radium Girls: The Dark Story of America’s Shining Women, 2017.
4. Lydia Dean Pilcher and Ginny Mohler (Regie): „Radium Girls“, Drama, 2018.

 

Entnommen aus MT im Dialog 3/2023

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