„Ich war fit, jung und Leistungssportlerin, das ist vorbei.“

Interview mit Pauline Radke
Die Fragen stellte Anne Barfuß.
Gehirnerschütterung beim Sport
Abb. 1, 2, 3, 4: Pauline Radke geht davon aus, dass ohne die zahlreichen vorherigen leichten Gehirnerschütterungen durch Kopftreffer die Folgen ihres Sturzes deutlich milder ausgefallen wären. © Britta Römer
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Interview mit Pauline Radke, ehemalige Bundesliga-Torhüterin der Handballspielgemeinschaft (HSG) Bensheim/Auerbach. Bis heute leidet sie an den durch zahlreiche Kopftreffer verstärkten Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas.

Insgesamt ziehen sich jährlich 270.000 Menschen in Deutschland ein Schädel-Hirn-Trauma zu, allein im Sport werden jedes Jahr rund 44.000 Gehirnerschütterungen diagnostiziert. Nach Schätzungen der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung, die sich mit der Initiative „Schütz deinen Kopf! Gehirnerschütterungen im Sport“ für Prävention und Aufklärung einsetzt, liegt die Dunkelziffer rund dreimal so hoch. Wird die Verletzung nicht erkannt oder unterschätzt, kann das lebenslange gesundheitliche Folgen haben. Die Gefahr, eine Gehirnerschütterung zu erleiden, besteht im Handball ebenso wie im Fußball, Eishockey, Basketball oder American Football. Häufig sind es viele „Kopftreffer“, die zunächst scheinbar keine Auswirkungen haben. Doch ein Folgesturz kann bei einem solch vorbelasteten Gehirn umso verheerender sein. Diese Erfahrung musste die ehemalige Bundesliga-Torhüterin der HSG Bensheim/Auerbach, Pauline Radke, machen. Nach 15 Monaten Krankenhaus- und Rehaaufenthalt arbeitet Radke heute wieder als Teamassistentin in der Industrie.

 

Frau Radke, wie viele Kopftreffer pro Spiel haben Sie als Torhüterin abbekommen?

Ich schätze pro Saison waren es fünf bis zehn. Manche steckt man so weg, manche tun richtig weh. Wir Torhüterinnen und Torhüter sind besonders gefährdet. Aber auch bei Feldspielerinnen und -spielern kommt es immer wieder zu Gehirnerschütterungen.

So schlimm wie seinerzeit Joachim Deckarm, der seit seinem Zusammenprall im ungarischen Tatabánya 1979 ein Pflegefall ist, dürfte es heute aber niemanden mehr treffen?

Das nicht, der Boden ist heute viel besser abgefedert als damals. In den Hallen, in denen ich in den letzten 17 Jahren meiner Handballkarriere gespielt habe, gab es keine Betonböden mehr. Dennoch: Die Folgen der Kopftreffer werden unterschätzt.

Sind Sie je nach einem Kopftreffer ausgewechselt worden?

Das konnte ich selbst entscheiden. Nur bei Nasenbluten oder offenen Wunden muss man vom Platz. Das Spiel wird aber bei jedem Kopftreffer vom Schiedsrichter unterbrochen und ein Physiotherapeut oder Arzt darf für die Behandlung auf das Spielfeld. Ich habe aber fast immer weitergespielt.

Warum?

Man will einfach alles geben, die Anspannung ist enorm, den Schmerz merkt man kaum. Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass ich wohl bei jedem Kopftreffer eine kleine Gehirnerschütterung hatte. Die Entscheidung, das Spielfeld zu verlassen, sollte ein Sportler nie allein treffen.

Insofern haben Sie während Ihrer Profikarriere auch nie einen Neurologen konsultiert?

Nein, ich war – wie die meisten Spielerinnen – nach einem Kopftreffer nicht einmal beim Hausarzt. Man hat einen Tag mit dem Training ausgesetzt, wenn es hochkam. 2017 hat es mich mal stärker getroffen, als sich beim Training alles drehte, habe ich eine Woche ausgesetzt. Das war’s.

Vor vier Jahren haben Sie Ihre Profikarriere beendet, warum?

Ich war 33 Jahre alt, der Aufwand von sechsmal Training und ein Spiel pro Woche war mir einfach zu viel geworden. Ich fühlte mich nicht mehr so leistungsfähig. Ich wollte in meiner Freizeit auch mal etwas anderes unternehmen.

Das Karriereende hatte also nichts mit den Gehirnerschütterungen zu tun?

Wissentlich damals nicht. Erst als ich nach einem Kreislaufzusammenbruch ungebremst auf den Hinterkopf gefallen bin und eine sehr heftige Gehirnerschütterung erlitt, wurde mir der Zusammenhang klar. Ich gehe davon aus, dass ohne die zahlreichen vorherigen leichten Gehirnerschütterungen die Folgen meines Sturzes deutlich milder ausgefallen wären. Denn ich habe schon vorher gemerkt, dass etwas nicht stimmt, dass ich schneller müde wurde. Aber ich habe das auf mein Alter und die hohen Belastungen im Sport geschoben.

Was hat den Kreislaufzusammenbruch ausgelöst?

Keine Ahnung, ich war mit Freunden in einem Lokal, wir haben zu Abend gegessen, es war sehr warm, möglicherweise war ich dehydriert. Alkohol war nicht im Spiel.

 

Wie ging es weiter?

Die ersten zwei Wochen nach dem Sturz hatte ich die typischen Symptome einer Gehirnerschütterung. Doch ab der dritten Woche ging es mir immer schlechter. Ich bekam Panikattacken, innere Unruhe, Konzentrationsstörungen und konnte kein Licht ertragen. Das Allerschlimmste aber war das Kribbeln unter der Schädeldecke. Das Gefühl, mich kratzen zu müssen, aber nicht durch die Schädeldecke zu kommen, hat mich wahnsinnig gemacht. Ich habe damals ständig weinen müssen, manchmal stundenlang.

Wie bei einer Depression?

Das wollten die Ärzte mir weismachen. Ich wusste aber, dass ich nicht depressiv bin. Aber meine Gehirnerschütterung war klinisch nie klar diagnostiziert worden. Nach dem Sturz kam ich zur Überwachung für 24 Stunden ins Krankenhaus. Es wurden weder ein CT noch ein MRT gemacht. Ich wurde 14 Tage krankgeschrieben und merkte am ersten Arbeitstag, dass ich definitiv nicht leistungsfähig war. Dann war ich vier Wochen in einer psychosomatischen Klinik, dort fühlte ich mich komplett falsch behandelt. Ein MRT erfolgte auf mein Drängen erst acht Wochen nach dem Sturz.

Und?

Man konnte nichts erkennen, alles schien top, was die behandelnden Ärzte leider in ihrer Diagnose „Depression“ bestätigte. Ich war damals fix und fertig, obwohl ich viel aß, nahm ich wegen der starken inneren Anspannung ständig ab, schließlich habe ich mich wieder bei meinen Eltern einquartiert. Und das war letztlich mein Glück. Denn meine Eltern haben mich auf das Beratungsangebot der Hannelore Kohl Stiftung aufmerksam gemacht. Dort wurde ich zum ersten Mal ernst genommen und die Behandlung wurde in die richtigen Bahnen gelenkt. Experten der Hannelore Kohl Stiftung stellten mir den Neuropsychologen Dr. Wolfgang Kringler aus Bietigheim-Bissingen zur Seite, der mir bestätigte, dass ich unter einem Post-Concussion-Syndrom leide und nicht unter Depressionen. Er hat gemeinsam mit mir die Folgen der Gehirnerschütterung aufgearbeitet.

Sie haben Ihr Post-Concussion-Syndrom öffentlich gemacht, warum?

In erster Linie, um dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu geben und damit anderen Betroffenen zu helfen. Denn scheinbar sind auch vielen Ärzten die Folgen einer Gehirnerschütterung nicht bekannt beziehungsweise werden die Betroffenen nicht ernst genommen.

Mein Umfeld versteht mich heute besser. Ich kann zwar dieselben Aufgaben erledigen wie vor dem Unfall, komme aber schnell an meine Grenzen. Das versteht keiner, denn ich bin ja scheinbar gesund. Man muss sich immer rechtfertigen, vor Freunden, vor Arbeitskollegen, auch vor der Krankenkasse. Zudem möchte ich auch informieren, Menschen helfen, ein Post-Concussion-Syndrom zu erkennen und zu therapieren.

Die Hannelore Kohl Stiftung bietet unter anderem Betroffenen-Seminare an. Bringt das was?

Unglaublich viel. Mir hilft es sehr, Menschen zu treffen, die in einer ähnlichen Situation sind. Niemand schaut beschämt zur Seite, wenn man eingesteht, dass man es drei Jahre nach dem Vorfall immer noch nicht geschafft hat, komplett fit zu sein. Die Hannelore Kohl Stiftung bietet Erlebnistage, Kochkurse, Online-Treffen oder Seminare für Angehörige von Betroffenen. Die Teilnahme ist kostenfrei. Es nehmen Menschen mit ganz unterschiedlichen Symptomen teil, mit leichten und mit wirklich schweren. Ich habe im August zwei Seminare besucht und plane das weiterhin regelmäßig, weil es mir guttut.

Ist jemals das Kribbeln wieder zurückgekommen?

Nein. Es wurde vermutet, dass die Ursache des Kribbelns auf Entzündungs- und Reparaturprozesse der Nervenzellen zurückzuführen ist. Wirklich erklären konnte mir die Symptome niemand. Durchhalten, Geduld haben und Ruhe bewahren, das waren die Horrorratschläge von vermeintlichen Experten, die ich während meiner Genesung erhalten hatte – ob es um das Kribbeln ging, die mangelnde Belastbarkeit oder das ständige Weinen. Ich war sehr verzweifelt. „Licht ins Dunkel“ brachte die neuropsychologische Therapie. Nach 15 Monaten inklusive eines fünfwöchigen Aufenthalts in einer Rehaklinik konnte ich wieder arbeiten. Eingestiegen bin ich nach dem Hamburger Modell, heute arbeite ich wieder in Vollzeit. Geholfen hat natürlich, dass ich während des Lockdowns im Homeoffice war. Inzwischen freue ich mich aber, wieder vor Ort am Arbeitsplatz sein zu dürfen.

Um zuverlässiger Gehirnerschütterungen zu erkennen, hat die Hannelore Kohl Stiftung eine Test-App entwickeln lassen, die GET-App (Gehirn-Erschütterungs-Test). Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Seit der Saison 2021 trainiere ich Torhüterinnen. Bei Kopftreffern setze ich stets die App ein. Die GET-App erfasst mittels Befragung die Symptome, prüft Gedächtnis, Reaktion, Augen- und Gleichgewichtsfunktion und ermittelt so, ob die Betroffene eine Gehirnerschütterung erlitten haben könnte und einen Arzt aufsuchen sollte. Und all das innerhalb von drei Minuten. Das könnte die Anzahl der nicht erkannten Gehirnerschütterungen aus meiner Sicht dauerhaft senken.

 

Symptomatik bei einer Gehirnerschütterung

  • Klinische Symptome sind Kopfschmerzen (70 bis 80 Prozent), Schwindel (34 bis 70 Prozent), Übelkeit/Erbrechen (20 bis 40 Prozent), Nackenschmerzen (rund 20 Prozent), Schwäche/Müdigkeit (20 bis 50 Prozent), visuelle Störungen (etwa 20 Prozent) und Empfindlichkeit gegenüber Licht und Lärm (10 bis 60 Prozent).

  • Kognitive Symptome sind unter anderem ein geistig „nebliges“ Gefühl, eine mentale Verlangsamung, Konzentrations- und Erinnerungsschwierigkeiten, vermehrte Vergesslichkeit, Verwirrtheitszustände sowie ein verlangsamtes Antworten auf Fragen und wiederholtes Fragen.

  • Verhaltensauffälligkeiten können unter anderem eine vermehrte Reizbarkeit, Nervosität oder Traurigkeit, eine vermehrte Emotionalität, einen Verlust der Impulskontrolle und mangelndes Interesse an Aktivitäten umfassen.

  • Im Verlauf auftretende Störungen des Schlafverhaltens können eine vermehrte Schläfrigkeit, die Notwendigkeit von weniger oder mehr Schlaf als üblich und Probleme beim Ein- oder Durchschlafen sein.

  • Diese Symptome und Zeichen verbessern sich in der Regel mit der Zeit und sind keine Hinweise auf einen dauerhaften Schaden des Gehirns. Meist verschwinden sie, ohne dass eine spezielle Therapie notwendig ist.

  • Zudem wird zwischen akuten Zeichen einer Gehirnerschütterung, die meist in Sekunden bis Minuten vorhanden sind, und späteren Zeichen, die häufig erst nach Stunden bis Tagen auftreten, unterschieden.

  • Um schwere langfristige Störungen zu vermeiden, ist die Früherkennung und fachgerechte Behandlung einer Gehirnerschütterung von zentraler Bedeutung.

  • Gerade im Sport ist eine schnelle Beurteilung nach standardisierten Kriterien am Spielfeldrand („Sideline“) erforderlich und empfehlenswert, wenn der Verdacht einer Gehirnerschütterung im Raum steht.

  • In den vergangenen Jahren wurden verschiedene primäre Analyseinstrumente etabliert: Glasgow Coma Scale (GCS), Post-Concussion-Symptom-Scale (PCSS), SAC (Standardized Assessment of Concussion), BESS-Konzept (Balance Error Scoring System), King-Devick-Test und das Testen der Reaktionszeit.

  • Hauptnachteil ist ein relativ hoher Zeitbedarf von 15 bis 20 Minuten, auch für computerbasierte Testbatterien. Mit einem einfachen 70-Sekunden-App-basierten Test besteht eine geeignete Alternative.

Quelle: DGUV/Hannelore Kohl Stiftung

Diagnose: MRT versus CT

  • Die Magnetresonanztomografie kann aufgrund ihrer höheren Sensitivität für umschriebene Gewebsläsionen nach der Akutversorgung zur Abklärung von Patienten mit neurologischen Störungen ohne pathologischen CT-Befund eingesetzt werden.

  • Die kraniale CT gilt als Goldstandard und soll bei schädelhirnverletzten Patienten durchgeführt werden, wenn beispielsweise eine Bewusstseinseintrübung, mehrfaches Erbrechen vorliegen, wenn ein enger zeitlicher Zusammenhang zur Gewalteinwirkung besteht.

Quelle: Leitlinie Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter, Update 2015

GET-App – Gehirn Erschüttert?

Die Trainerversion der GET-App richtet sich an Trainer und Betreuer im Mannschaftssport. Sie ermöglicht, Baseline-Werte für ein gesamtes Team zu speichern, um im Notfall sofort darauf zurückgreifen und Veränderungen erkennen zu können (Baseline = Ruhewert, der vor der Saison erhoben wird). Innerhalb von wenigen Minuten kann die Möglichkeit einer Gehirnerschütterung mittels Symptomerfassung, Gedächtnistest, Reaktionstest, Testung der Augenfunktion und des Gleichgewichts ermittelt werden. Kostenloser Download in allen App-Stores, Infos: https://schuetzdeinenkopf.de/service/mediathek/get-app

 

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