„Ich kann, ich will, ich muss!“

Interview mit Herbert Deckarm, dem Bruder und Betreuer des 1979 verunglückten Weltklassehandballspielers Joachim Deckarm
Die Fragen stellte Anne Barfuß.
Titelbild zum Interview mit Herbert Deckarm, dem Bruder und Betreuer des 1979 verunglückten Weltklassehandballspielers Joachim Deckarm
Abb. 1: Joachim Deckarm (Mitte) beim Abschiedsspiel des ehemaligen deutschen Handball-Nationalspielers Christian Schwarzer (l.) am 7. Juni 2009, rechts die ehemalige deutsche Handball-Nationalspielerin Silvia Schmitt, beide engagieren sich als „Deckarm-Botschafter“. Ein Teil des Erlöses aus dem Spiel ging an den Deckarm-Fonds der Deutschen Sporthilfe. © Nicole Rosche
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Freitag, 30. März 1979, 17 Uhr. Joachim Deckarm (25), der weltbeste Handballer, tritt mit dem Team des VfL Gummersbach im Halbfinale des Europapokals bei Banyasz Tatabánya an. 17.23 Uhr: Deckarm prallt mit einem gegnerischen Spieler zusammen, eigentlich völlig unspektakulär. Niemand ahnt, dass anschließend nicht nur seine Karriere, sondern sein gesamtes bisheriges Leben endet. Dem Unfall folgen 131 Tage Koma und dann ein endloser Kampf gegen die Folgen des Schädel-Hirn-Traumas. Aus dem Koma erwacht, kann er sich kaum bewegen, kann nicht sprechen. Doch er kämpft sich mit ungeheurem Willen und vor allem mit Unterstützung seines Jugendtrainers Werner Hürter zurück ins Leben.

Seit 2018 lebt Deckarm in einem Seniorenheim in Gummersbach, schon seit 2007 ist er dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen. Noch immer bestimmt der Handball sein Leben. „An manchen Wochenenden waren wir bei drei VfL-Gummersbach-Spielen (Bundesliga, 3. Liga, A-Jugend)“, wie sein Bruder und derzeitiger Betreuer Herbert erzählt. Auch er ist handballbegeistert. In Saarbrücken spielte er zusammen mit seinem Bruder beim 1. FC Saarbrücken, als Handballtrainer kam er Anfang der 70er-Jahre zum VfL Gummersbach. Dort teilte er sich von 1972 bis 1979 mit Joachim Deckarm eine Wohnung. „Für eine Profikarriere hat es bei mir aber nicht gereicht“, sagt der ehemalige Finanzberater.

Herr Deckarm, wie haben Sie damals vom Unfall erfahren?

Eugen Haas, VfL-Bundesligaobmann, rief mich in Gummersbach an, weil er unsere Eltern nicht erreicht hatte. Es war ihr Kegelabend. Haas besorgte für meine Eltern Flugtickets und sie waren am nächsten Tag direkt vor Ort, ich drei Tage später.

Ahnten Sie damals schon, wie schlimm es um ihn stand?

Zunächst nicht, Joachim wurde in Budapest operiert, die OP verlief gut. Dann ging es zur Neurologie der Kölner Uniklinik, doch nach drei Monaten lag Joachim immer noch im Koma. Unsere Eltern ließen ihn nach Hause ins Saarland verlegen, in die Neurochirurgische Universitätsklinik in Homburg/Saar. So konnten sie müheloser jeden Tag bei ihm sein.

Nach 131 Tagen Koma wachte er dort dann endlich auf …

Aufwachen ist zu viel gesagt, er hatte seine Augen geöffnet und die Ärzte versuchten, mit ihm zu korrespondieren, vor allem mit Rechenaufgaben. Das war ja sein Metier, Joachim hatte in Köln Mathematik und Sport auf Lehramt studiert. Mit Augenklimpern versuchte Joachim sich verständlich zu machen. Einige Wochen später schaffte er es, uns die Hand zu drücken, nach Monaten konnte er mit Ja und Nein reagieren. Nach dem Aufenthalt in der Neurologie folgten insgesamt zwölf Monate Therapie in den Rehakliniken Bad Godesberg und Langensteinbach.

War das erfolgreich?

Eher enttäuschend. Dort konzentrierte man sich auf das Lauf- und Sprechtraining. Die Empfehlung lautete: Unterbringung im Pflegeheim, weitere Therapien seien nicht sinnvoll.

Was sich aber als falsch herausstellte …

Dank Joachims ehemaligem Jugendtrainer Werner Hürter. Werner war damals 63 Jahre alt, pensionierter Polizeibeamter. Dass er sich einschaltete, war ein kompletter Zufall.

Inwiefern?

Joachims Freunde sind nach Abschluss der Reha, er wohnte damals wieder zu Hause im Saarland bei unseren Eltern, zwei- bis dreimal die Woche mit Joachim ins Schwimmbad gegangen. Joachim liebte das, dort konnte er sich einfacher bewegen und das Gleichgewicht halten. Werner traf Joachim bei einem dieser Schwimmtrainings und war erschüttert angesichts seines körperlichen Zustandes. Von da an machte er es sich zur Lebensaufgabe, Joachim voranzubringen.

Wann ungefähr war das?

Ende 1982, rund drei Jahre nach dem Unfall. Werner hat wirklich das Maximale aus Joachim herausgeholt. Er hat den starken Willen meines Bruders gespürt. Joachims Lebens- und Trainingsmotto „Ich kann, ich will, ich muss“ stammt auch aus dieser Zeit. Nur drei Jahre später absolvierte Joachim im Leichtathletikstadion einen 400-Meter-Lauf.

Wirklich einen Lauf? Ist er nicht eher gegangen?

Nein, er ist gelaufen, komplett ohne fremde Hilfe.

Woher hatte Hürter das Know-how? Wer hat ihm beim Trainingskonzept geholfen?

Werner hat sich umfassend informiert und viel recherchiert, sämtliche Bücher gelesen, weltweit Kontakte aufgebaut. Es war und ist uns allen natürlich bewusst, dass das Schädel-Hirn-Trauma nicht nur Joachims Motorik in Mitleidenschaft gezogen hatte. Werner konzentrierte sich auf das Potenzial von Millionen ungenutzter Gehirnzellen im menschlichen Gehirn und die Möglichkeit, diese zu aktivieren.

Und dieses Aktivieren sollte durch Sport und Therapie erreicht werden …

Ganz genau. Es bildeten sich durch Therapie und Training „Pfade im Gehirn“, die ermöglichten, dass bis dahin ungenutzten Zellen die ursprünglichen Aufgaben der zerstörten wenigstens teilweise übernähmen, so hat er es uns damals erklärt. Mit welchem Training das bei Schädel-Hirn-Verletzten mit dem Schweregrad IV am besten gelingt, hat er unaufhörlich recherchiert.

Er soll sich an dem Buch „Was können Sie für Ihr hirnverletztes Kind tun?“ von Glenn Doman orientiert haben …

Das kann sein, vor allem aber hat er ein weltweites Netzwerk aufgebaut.

Wie lief das Training ab?

Werner holte Joachim jeden Morgen um 9 Uhr ab, bis zum Mittagessen wurde trainiert und weitere drei bis vier Stunden am Nachmittag. Tag für Tag, bis zu seinem Tod 1996, also mehr als 14 Jahre. Werners Frau war oft dabei und auch meine Mutter. Die Übungen wurden oft auch einfach daheim im Wohnzimmer absolviert.

Ihr Bruder trat Anfang der 90er-Jahre auf der Rehabilitationsmesse in Düsseldorf auf, zusammen mit Werner Hürter. Aufgefallen ist seine gute Laune …

Gut gelaunt war Joachim immer, das ist er heute noch, auch das ist auf das intensive Training mit Werner zurückzuführen. Mit der normalen Reha hätte er all das nicht erreicht!

Wie geht es Ihrem Bruder heute?

Gut, er ist im Seniorenheim in Gummersbach, dort wird er therapeutisch versorgt. Er sitzt seit 2007 im Rollstuhl, vor allem, weil er das Gleichgewicht schnell verliert. Aber Joachim kann sich auch heute noch selbstständig waschen, auf die Toilette und ins Bett gehen. Das freie Laufen hat allerdings enorm nachgelassen. Letztlich war alles, was er bei Werner gelernt hat, antrainiert, wie bei einem Hundertmeterläufer. Ohne dieses intensive Training schwinden die Fähigkeiten.

Wie lange lebte Joachim im Haus der Eltern?

Bis 2007. Er hatte in der ersten Etage seine Wohnung. Unsere Mutter hat ihn morgens geweckt, er ist aufgestanden, hat sich fertiggemacht und ging zum Frühstück nach unten, allerdings mit Unterstützung meiner Mutter. Als sie das körperlich nicht mehr schaffte, mein Vater ist bereits 1983 gestorben, lebte er in Saarbrücken in einem Seniorenheim mit Pflegestation. Auch dort hatte er eine eigene Wohnung und feste Betreuer.

2018 haben Sie Joachim dann nach Gummersbach geholt …

Genau, nach dem Tod unserer Mutter und vieler Freunde aus Werners Zeiten fehlten ihm Bezugspersonen. Und hier in Gummersbach ist ja auch „sein“ VfL.

Gibt oder gab es Selbsthilfegruppen, die für Ihren Bruder wichtig sind?

Nein, er war am liebsten mit seinen Freunden zusammen. Das Wort behindert möchte Joachim bis heute nicht in den Mund nehmen. Er habe Einschränkungen, sei aber nicht behindert. Das hat Werner ihm stets eingeprägt. Er kann sich heute, wie gesagt, auch im Rollstuhl selbstständig fortbewegen. Alleine verlässt er das Heim zwar nicht, aber er hat fast jeden Tag Besuch. Und vor allem: Wenn die Bundesliga losgeht, sind wir bei jedem Heimspiel dabei. Joachim kann auch heute noch dem Spiel längere Zeit konzentriert folgen, aber niemals verlässt er vor dem Schlusspfiff die Halle.

Literatur

Heggen R: Teamgeist – Die zwei Leben des Joachim Deckarm. Großenhausen 2011 (3., aktualisierte Auflage), Herausgeber: Deutscher Handballbund, Handball-Bundesliga, Stiftung Deutsche Sporthilfe

 

Joachim Deckarm

In 104 Länderspielen (1973 bis 1979) erzielt er insgesamt 381 Tore. Mit dem VfL Gummersbach wird er dreimal deutscher Meister, zweimal deutscher Pokalsieger und gewinnt den Europapokal der Landesmeister und der Pokalsieger.

1983 stirbt der Vater mit 63 Jahren, 2013 seine Mutter. Deckarm hat drei Brüder, sein sechs Jahre älterer Bruder Herbert ist heute sein Betreuer.

Seine Biografie, die allen Betroffenen und Angehörigen Mut macht, ihr Schicksal selbstständig anzugehen, ist in dem Benefiz-Buch „Teamgeist – Die zwei Leben des Joachim Deckarm“ beschrieben, das in drei Auflagen erschienen ist. 2013 wurde Joachim Deckarm zudem als „besonderer Kämpfer“ in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen.

Unter dem Dach der Deutschen Sporthilfe wurde bereits 1980 kurz nach Deckarms Unfall ein Sonderfonds eingerichtet, aus dem die aufwendigen Behandlungen, Medikationen, Therapien, Rehamaßnahmen und Kuren finanziert werden. Das Fonds-Kapital nährt sich seither aus Spenden und den Erlösen zahlreicher Benefizspiele – vor allem von und mit seinen Mannschaftskameraden aus dem WM-Team von 1978 (https://www.sporthilfe.de/deckarm-fonds).

Entnommen aus MTA Dialog 9/2022

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