Sein älterer Bruder Georg Hermann Quincke (1834–1924) war erfolgreicher Physiker (Akustik, Kolloide, Elektroosmose, Elektrophorese), der drei zukünftige Nobelpreisträger unter seinen Schülern hatte.
Heinrich musste vor dem Studium das Schreinerhandwerk erlernen, worauf er später dankbar seine Geschicklichkeit und Erfindergabe zurückführte. Der von ihm gebaute Schreibtisch stand immer in seinem Büro. Er studierte Medizin in Berlin, Heidelberg und Würzburg und wurde 1863 von dem Pharmakologen Eilhard Mitscherlich promoviert. Nach Kurzaufenthalten in Wien, Paris und London wurde er 1866 Assistent bei dem Chirurgen R. F. Wilms und 1867 bis 1871 bei dem Internisten Theodor von Frerichs (1819–1885) an der Charité. Hier untersuchte er an Hunden mit Quecksilbersulfid-Injektionen die Anatomie und Physiologie der Zerebrospinalflüssigkeit (CSF). Er konnte sich dabei auf anatomische Beschreibungen von E. Swedenborg (1688–1772) stützen, der bereits CSF, Hypophyse und Frontalhirn lokalisiert hatte. Nach der Habilitation (1870) wurde Quincke 1873 als Professor der Inneren Medizin an das Inselspital in Bern berufen und wechselte 1878 in dieser Funktion nach Kiel, wo er 30 Jahre verblieb und viermal Dekan und 1900/01 auch Rektor der Universität war. In Kiel hatte er tiefgehende Streitigkeiten mit dem Chirurgen Generalarzt Friedrich von Esmarch (1823–1908), der es nie verwunden hat, dass ein Internist erfolgreich Thoraxchirurgie betrieb, darüber publizierte und als Nichtchirurg in die Deutsche Chirurgische Gesellschaft aufgenommen wurde. Von Esmarch war in zweiter Ehe mit der Nichte von Kaiser Wilhelm II. verheiratet und hat über seine Beziehungen den von Quincke geplanten Neubau der Medizinischen Klinik verhindert.
Nach seiner Emeritierung 1908 übersiedelte Quincke mit seiner Frau Berta Wrede nach Frankfurt a. M., wo er als Honorarprofessor an der Universität und als Forscher am Senckenberg-Institut tätig war. Allerdings fehlten ihm Klinik, Patienten und große wissenschaftliche Herausforderungen. Kurz vor seinem 80. Geburtstag 1922 wurde er an seinem Schreibtisch tot aufgefunden: Ein Schuss in den Mund hatte seinem Leben ein Ende gesetzt [2].
Lumbalpunktion
Aufbauend auf seine Tierversuche zur CSF stellte Quincke 1891 auf dem 10. Kongress für Innere Medizin die von ihm durchgeführten Lumbalpunktionen (LP) vor und erhielt hohe Anerkennung [3, 4, 5]. Die von ihm entwickelte schräg angeschliffene Quincke-Kanüle wurde zur Vermeidung des postpunktionellen Kopfschmerzes später von Sprotte durch atraumatische Nadeln mit seitlicher Öffnung und von R. J. Whitacre durch Pencil-Point-Kanülen mit Mandrin ersetzt. Quincke führte Punktionen bei Kindern und Erwachsenen mit Hirndrucksteigerung, sogenannter Quinckescher Meningitis (intrakranielle Hypertonie, Papillenödem, Erbrechen und Diplopie) und 1895 (gemeinsam mit Assistenten) bei Neurosyphilis durch. Quincke erkannte schnell neben den therapeutischen auch die diagnostischen Möglichkeiten. Er untersuchte den Liquor auf Zellen, Erythrozyten und deren Veränderungen, Bakterien, Glukose und Proteine und hat mit einem graduierten Steigrohr den Druck gemessen. Einige Monate nach Quinckes Mitteilung berichtete Walter Essex Wynter, dass er bei vier Kindern mit tuberkulöser Meningitis nach Inzision der Dura mit einem Schlauch CSF gewonnen habe, aber das Leben der Kinder nicht retten konnte [6]. Quincke hat den Bericht in seinen weiteren Artikeln erwähnt. Die nächste große Anwendung der LP folgte in der Chirurgie mit der Spinalanästhesie. J. Leonard Corning erprobte bereits 1885 das Einspritzen von Cocain zunächst an Hunden, dann am Menschen. Die praxisrelevante Einführung gelang 1898 dem bekannten Chirurgen August Bier (1861–1949) mit seinem Assistenten A. Hildebrandt: zunächst gegenseitig, dann an sechs Patienten. Es folgten jahrelange Streite über die Priorität mit Corning und über das Nichterwähnen in der Publikation mit seinem Assistenten.
Quincke-Ödem
Am bekanntesten ist die Verknüpfung des Namens Quincke mit dem Angioödem (angioneurotisches Ödem) [7, 8]. Die Schwellung von Haut, Schleimhäuten und der angrenzenden Gewebe entwickelt sich innerhalb von Minuten oder Stunden und kann Stunden bis Tage anhalten. Bei Beteiligung der Luftwege kann lebensbedrohende Atemnot auftreten. Das Auftreten von Schwellungen war sicher schon im Altertum bekannt. Erste Beschreibungen von vermutlichen Angioödemen stammen von Marcello Donati (1538–1602) in „De medica historia mirabili“ und von John Laws Milton (1820–1898) als „giant urticaria“ (heute wird die Urtikaria vom Angioödem abgegrenzt). Die eindeutige und umfassende Beschreibung erfolgte 1882 durch Quincke, der auch den Zusammenhang mit Nahrungsmitteln und Medikamenten erkannte. Sir William Osler (1849–1919) bemerkte 1888, dass einige Fälle auch einen hereditären Hintergrund haben [9]. Erst 1963 wurde durch V. H. Donaldson beim hereditären Angioödem ein Mangel des C´1-Esterase-Inhibitors festgestellt [10]. Obwohl noch nicht alle Einzelheiten geklärt sind, ist die Aktivierung des Bradykinin-Weges als Endstrecke für die Bildung des Angioödems gesichert. Die neuesten Therapieansätze blockieren deshalb den Bradykinin-Rezeptor B2 und verhindern damit die Ödembildung am Anfang der Kaskade.
Weitere medizinische Ergebnisse
Viele Jahre beschäftigte sich Quincke mit Lungenkrankheiten. Als Internist (!) führte er 1896 operative Eröffnungen (Pneumotomien) und Behandlungen von Lungenabszessen und Kavernen nach vorausgegangener Verklebung der Pleurablätter durch. Er wird sogar als Begründer der Lungenchirurgie angesehen. Der gemeinsam mit dem Königsberger Chirurgen Carl Garré verfasste „Grundriss der Lungenchirurgie“ wurde später selbst von Sauerbruch gelobt. Die Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie wurde schon erwähnt. Zur Verbesserung des Sekretabflusses erfand er die Hängelagerung von Patienten mit Bronchiektasen (Quincke-Lagerung).
„Zu Physiologie und Pathologie des Blutes“ [11] forschte er über die perniziöse Anämie, beschrieb Poikilozytose und Siderose sowie Magenschleimhautatrophie. Er bewies die Resorption von anorganischem Eisen aus dem Magen-Darm-Trakt, was für die Behandlung der Eisenmangelanämie wichtig ist. Blutbildveränderungen untersuchte er 1890 bei an Malaria erkrankten Bauarbeitern des Kaiser-Wilhelm-Kanals.
Als genauer Beobachter beschrieb er die Verschiebung des Kapillarpulses bei Aortenklappeninsuffizienz (Quincke-Zeichen) und das Vorkommen von Aneurysmen in Aorta und Leberarterie (der von ihm vermutete Zusammenhang mit der Syphilis hat sich nicht bestätigt). Bei Schädel- oder Hirnstammverletzungen bemerkte er Hypothermie, Hyperthermie und Anosmie und postulierte ein Wärmezentrum. Untersuchungen der Körpertemperatur dehnte er auch auf Murmeltiere aus und konnte die Absenkung der Temperatur von 38° C auf 6° C im Winterschlaf nachweisen.
Auch die Mikrobiologie hat Quincke beschäftigt. Mit E. Roos differenzierte er Entamoeba histolytica von Escherichia coli. Der Erreger des Tier-Favus (Erbgrind, Tinea favosa) ging als Trichophyton quinckeanum in die Literatur ein (genetische Untersuchungen haben diese Varietät jetzt dem Trichophyton mentagrophytes zugeordnet).
Seine handwerkliche Geschicklichkeit (als Schreinergeselle!) führte zu wichtigen Entwicklungen in der Krankenbetreuung: Schwitzbett, Wasserkissen, Lesepult, fahrbare Badewanne und Klosettdusche. Eine gesunde Lebensweise empfahl er nicht nur seinen Patienten, sondern praktizierte sie fast ins Extreme gehend an sich selbst.
Quincke hat immer seine Studenten im Hörsaal und am Krankenbett betreut und hat den damals seltenen direkten Kontakt der Studenten mit den Patienten durchgesetzt. Mehr als 120 Publikationen zeugen von seiner vielseitigen wissenschaftlichen Tätigkeit. Für die Patienten organisierte er jeden Tag eine Gesprächsrunde, versuchte sie aufzumuntern und gab Empfehlungen für eine gesunde Lebensweise. Im Krieg ging es so weit, dass er mit seiner Frau die Patienten zu Hause mit Nahrung und Heizmaterial unterstützte.
Vorschläge für den Nobelpreis
Quincke wurde zwischen 1909 und 1922 siebenmal für den Nobelpreis für Medizin vorgeschlagen, unter anderem für Lumbalpunktion, Lungenchirurgie und perniziöse Anämie [12]. Die Begründungen der Ablehnungen: Die Lumbalpunktion läge 18 Jahre zurück (1909), mit 76 Jahren sei er zu alt, er sei nicht mehr als Arzt und Forscher tätig (1920) und er sei des Nobelpreises würdig, aber zu alt (1922). Zum Vergleich sei der Nobelpreis von 1966 für Peyton Rous erwähnt: Er war 87 Jahre alt, und die Ergebnisse lagen 55 Jahre zurück. Nach seinem Tod geriet Quincke (außer in seinen Eponymen) weitgehend in Vergessenheit. Die Promotionsschrift von Hartmut Bethe über Heinrich Quincke brachte 1967 die Wende.
In der Suche nach den Ursachen seines Selbstmordes wurde neben den Ablehnungen des Nobelpreises und Verhinderung des Neubaus seiner „idealen Klinik“ auch die Kinderlosigkeit seiner Ehe (bei starkem Kinderwunsch der Eheleute) vermutet. Die Niederlage Deutschlands 1918 und die Abdankung des Kaisers soll ihn sehr deprimiert haben.
Literatur
1. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Irenaeus_Quincke.
2. Schuchart S: Heinrich Irenaeus Quincke und das Ei des Kolumbus. Dt Arztebl 2019; 116: 572.
3. Frederiks JA, Koehler PJ: The first lumbar punction. J Hist Neurosci 1997; 6: 147–53.
4. Quincke HI: Die Lumbalpunktion des Hydrocephalus. Berl Med Wschr 1891; 28: 929–33.
5. Göring H-D: Heinrich Irenäus Quincke. Erfinder der Lumbalpunktion. Dt Arztebl 2002; 99: A1173.
6. Pearce JM: Walter Essex Wynter, Quincke, and lumbar punction. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1994; 57: 179.
7. https://de.wikipedia.org/wiki/Quincke-Ödem.
8. Reshef A, Kidon M, Leibovich I: The story of angioedema: from Quincke to bradykinin. Clin Rev Allergy Immunol 2016; 51: 121–39.
9. Osler W: Hereditary angio-neuroticoedema. Am J Med Sci 1888; 85: 362–7.
10. Donaldson VH, Evans RR: A biochemical abnormality in hereditary angioneurotic edema: absence of serum inhibitor of C´1-esterase. Am Med J 1963; 35: 37–44.
11. Quincke HI, Hoppe-Seyler F: Zur Physiologie und Pathologie des Blutes. Dt Arch Klin Med 1883; 33: 22–41.
12. Cozanitis DA: Heinrich Irenaeus Quincke (1842–1922). The Nobel prize but for the problem of age. La Presse Méd 2013; 42: 464–70.
Entnommen aus MTA Dialog 1/2020
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