Gesundheitssysteme im Vergleich – Rumänien
Damals sprang von der mit rund 320.000 Einwohnern drittgrößten Stadt Rumäniens der Funke der Revolution auf die anderen Städte über. Am 19. Dezember zogen Tausende Demonstranten durch die Straßen, am nächsten Tag waren es bereits 20.000. Die Befreiung vom Ceausescu-Regime kostete mehr als 100 Menschen das Leben, mehr als 500 wurden verletzt. In der Grünanlage vor der christlich-orthodoxen Kathedrale erinnert heute eine Gedenktafel an jedes Opfer.
2007 trat Rumänien gemeinsam mit Bulgarien der Europäischen Union bei. Das Land behielt seine Währung, das Schengenabkommen wenden beide Länder nur eingeschränkt an. Ursprünglich sollten sie auch in den Schengenraum aufgenommen werden, doch Österreich und die Niederlande legten ihr Veto ein. Österreich befürchtete eine Zunahme illegaler Migration auf der „Balkan-Route“.
2023 ist Timisoara eine lebendige Großstadt. Viele Fassaden der Altstadt sind restauriert und grün, rot oder blau getüncht. In den Straßen hört man viele Sprachen, neben Rumänen leben hier Deutsche, Ungarn, Serben, Roma, Tschechen, Slowaken und Bulgaren. Über der kleinen Fußgängerzone Strada Alba Julia schaukeln zahllose bunte Regenschirme im Wind. Bürgermeister der Stadt ist der Deutsche Dominic Fritz. Während eines Freiwilligendienstes lernte er die Stadt kennen, seit 2020 sitzt er im Rathaus.
Die Stadt war ihrer Zeit schon immer etwas voraus: 1884 gab es hier zum Beispiel die erste Straßenbeleuchtung Europas, eine Laterne vor dem Elektrizitätswerk erinnert daran. Doch wie ist es um das Gesundheitssystem des Landes bestellt?
Bis 1996 war das Gesundheitswesen vollständig staatlich reguliert: Nach dem Modell von Nicolai Semashko, dem ersten Gesundheitsminister der Sowjetunion, kam der Staat für die Gesundheitsversorgung aller auf. Im folgenden Jahr führte die Regierung das Sozialversicherungssystem Bismarckscher Prägung ein („Law on Social Health Insurance“). Seit 1998 gibt es den „National Health Insurance Fund“, der sich aus 42 regionalen „District Health Insurance Funds“ zusammensetzt. Die Krankenversicherung ist eine Pflichtversicherung. Man kann sich zusätzlich privat versichern, eine private Vollversicherung gibt es nicht. Weil die Beiträge, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer an die Versicherung abführten, die Kosten nicht deckten, erbrachten Ärzte viele Leistungen „umsonst“. Dem nationalen Statistikbüro zufolge machten 2007 „Selbstzahlungen“ 30 Prozent der Gesamtausgaben für Gesundheit aus, darin waren auch Schwarzzahlungen enthalten. Zuzahlungen in Form einer Praxisgebühr oder im Krankenhaus fielen zwar nicht an. Doch insgesamt liegt Rumänien mit der Höhe der Zuzahlungen an der Spitze der OECD-Staaten.
Im August 2022 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO-Büro Barcelona) einen Bericht zur Finanzierung der Gesundheitssysteme. Über das WHO-Büro Barcelona überwacht WHO/Europa die finanzielle Absicherung in über 40 Ländern. Darüber hinaus unterstützt das Büro dabei, Versorgungslücken zu identifizieren und zu beseitigen und finanzielle Härten zu verringern. Der Bericht erfasst erstmals umfassend den Zugang zur Gesundheitsversorgung in Rumänien und weist auf die im Vergleich zu anderen EU-Ländern hohe Inzidenz „ruinöser Gesundheitsausgaben“ hin. Aus dem Bericht geht unter anderem hervor, dass 2015 jeder achte Haushalt Zahlungen aus eigener Tasche leisten musste, die seine Zahlungsfähigkeit für Gesundheitsausgaben um mindestens 40 Prozent überstiegen. Ruinöse Gesundheitsausgaben führen dazu, dass sich ein Haushalt andere Güter zur Grundversorgung wie Nahrungsmittel, Wohnung und Strom nicht oder nur eingeschränkt leisten kann.
Die Analyse zeigt, dass vor allem die einkommensschwächsten 40 Prozent der Haushalte, aber auch ältere Menschen von ruinösen Gesundheitsausgaben betroffen sind. Dafür sind hauptsächlich Zahlungen aus eigener Tasche für ambulant verschriebene Medikamente verantwortlich; auf den nächsten Plätzen folgen die zahnärztliche und die ambulante Versorgung. Zwischen 2010 und 2015 stiegen die ruinösen Gesundheitsausgaben, insbesondere in einkommensschwachen Haushalten. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung hat sich in diesem Zeitraum zwar verbessert, doch der Bedarf an Gesundheitsleistungen, vor allem der zahnärztlichen Versorgung, ist weiterhin in einem Ausmaß nicht gedeckt, das deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt.
Durch Reformen der letzten Jahre erweiterte der Staatliche Krankenversicherungsfonds seinen Leistungsumfang, und die staatlichen Ausgaben für Gesundheit erhöhten sich insgesamt. Doch trotz dieser positiven Entwicklungen benennt der WHO-Bericht folgende Probleme:
Zwölf Prozent der Bevölkerung sind nicht versichert und haben nur zu wenigen staatlich finanzierten Gesundheitsleistungen Zugang.
Manche einkommensschwache Menschen können sich eine Krankenversicherung schlicht nicht leisten.
Es gibt keine Ausnahmen von Zuzahlungen für verschriebene Arzneimittel speziell für einkommensschwache Bürger und keine generelle Obergrenze für Zuzahlungen.
Weitere Faktoren führen zu finanziellen Härten und Versorgungslücken. Dazu zählen zum Beispiel „informelle Zahlungen“ an Gesundheitspersonal und für Arzneimittel und Hilfsgüter, besonders in der stationären Versorgung, unzureichende Qualität der Leistungen und eine veraltete Infrastruktur in staatlichen Krankenhäusern sowie ein Mangel an Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsfachkräften in ländlichen Gebieten.
Der Bericht enthält eine Reihe von Empfehlungen zur Verbesserung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung.
Demnach sollte die gesamte Bevölkerung krankenversichert sein und Zugang zum selben Leistungspaket haben; einkommensschwache Haushalte sollten von Zuzahlungen befreit sein.
Es sollte eine einkommensabhängige Obergrenze für alle Zuzahlungen geben, und die Beschaffung von (insbesondere rezeptfreien) Arzneimitteln in der staatlichen Krankenversicherung sollte weiterhin verbessert werden.
Bei zahnärztlichen Leistungen sollte man Versicherungsschutz und Einkauf stärken und den hohen ungedeckten Bedarf in den einkommensschwächsten Haushalten abbauen.
Informelle Zahlungen müssten unterbleiben, verbunden mit wirksameren Kontrollen.
Um all das zu erreichen, müsste der Staat mehr ins Gesundheitssystem investieren. 2007 lag der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) unter vier Prozent (Deutschland 10,7 Prozent). Inzwischen sind es 6,2 Prozent (Deutschland 12,8 Prozent). Damit ist Deutschland Spitzenreiter. Rumänien liegt auf dem vorletzten Platz, vor Luxemburg (5,8 Prozent). Alle 27 EU-Staaten geben im Durchschnitt 10,9 Prozent des BIP für Gesundheit aus (Statistisches Bundesamt).
Konkret heißt das: Für Gesundheit gab man 2007 in Rumänien jährlich 120 Euro pro Person aus, in Deutschland waren es knapp 3.000 Euro. Heute sind es pro Person und Jahr knapp 600 Euro, in Deutschland 5.700 Euro. Die Folgen kann man nicht übersehen. Bei etlichen Gesundheitsindikatoren belegt Rumänien unter allen EU-Staaten den letzten Platz oder einen der letzten Plätze. Rumänien hat etwa die höchste Säuglingssterblichkeit: Mit knapp sieben Todesfällen pro 1.000 Kinder liegt sie fast doppelt so hoch wie der EU-Durchschnitt. Zudem erkranken in Rumänien EU-weit die meisten Menschen an Tuberkulose (0,45 Promille gegenüber 0,05 Promille in Deutschland, das entspricht dem Faktor 9).
In Rumänien dauerte es länger als in den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten, bis sich Neuerungen durchsetzten. Die Folge: 2007 wanderten zehn Prozent der Mediziner aus (4.000 von 37.000). Das lag nicht zuletzt an dem im europäischen Vergleich extrem niedrigen Gehalt: Bis 2018 verdiente ein Assistenzarzt im zweiten Jahr circa 670 Euro, eine Fachärztin circa 1.000 Euro brutto monatlich. Dann wurden die Gehälter im öffentlichen Gesundheitswesen deutlich erhöht und für Ärzte mehr als verdoppelt: Assistenzärzte verdienten fortan circa 1.500 Euro, Fachärzte 2.650 Euro brutto im Monat. Dennoch: Das rumänische Gesundheitssystem ist eins der schlechtesten in der EU, viele Krankenhäuser sind heruntergekommen und renovierungsbedürftig. Dabei ist die Gesundheitsversorgung in den Städten vergleichsweise gut, doch auf dem Land fehlen Fachärzte, und Patienten müssen zum Teil größere Entfernungen in ein Zentrum zurücklegen. Hier müssen sie oft monatelang auf einen Termin warten, und ärmere Bewohner in ländlichen Gebieten haben nicht genug Geld, um die Fahrt zu bezahlen.
Im Jahr 2017 arbeiteten in Rumänien 292 Ärzte je 100.000 Einwohner, das Land lag damit vor Polen und knapp vor Großbritannien an drittletzter Stelle der EU. Laut Gyöngyi Tar, seit 2007 Leiterin des Gesundheitsamtes im siebenbürgischen Kreis Harghita, wandern seit der Lohnerhöhung 2018 zwar weniger Ärzte aus; doch viele Ärzte aus dem öffentlichen Gesundheitswesen arbeiten nebenher auch privat, weil sie sonst nicht genug Geld verdienen würden. Ein heikles Thema ist die Praxis, dass Patienten Ärzten Geld zustecken, um behandelt zu werden. „Das passiert leider noch häufig. (…) Schuld daran sind aber nicht nur die Ärzte. Ich glaube, die meisten Ärzte erwarten kein Schmiergeld. Oft denken Patienten aber, dass sie sonst nicht angemessen behandelt werden“, sagt die Ärztin Tar. Deutschland spielt in diesem Gefüge eine unrühmliche Rolle, denn es wirbt aktiv Ärzte und medizinisches Personal im Ausland an, vor allem in Südosteuropa. Unter allen in Deutschland tätigen ausländischen Ärzten stehen rumänische Ärzte an erster Stelle. Tar wünscht sich, dass Deutschland und andere westliche Länder das in irgendeiner Form gegenüber Rumänien kompensieren würden.
Vom Balkon des Hotels Vanilla am Bulevardul Eroilor de la Tisa in Timisoara schaut man auf eine „Hyperclinica“ des MedLife-Unternehmens. Allein in Timisoara gibt es drei davon. MedLife ist der größte Betreiber von privaten ärztlichen Dienstleistungen in Rumänien. Weitere sind etwa Medicover, Regina Maria, Sanador, Monza und Affidea. Dabei sind die Unternehmen nicht auf Rumänien beschränkt. Medicover etwa ist auch in Deutschland, Polen, Indien und der Ukraine tätig. Laut „MarketScreener“ betrieb MedLife Ende 2021 in Rumänien 80 Kliniken, elf Krankenhäuser, 34 medizinische Labore, 17 Zahnkliniken und 22 Apotheken. Neben ambitionierten staatlichen Investitionen entwickelt sich der private Sektor rasch weiter. Laut Gentiana Avrigeanu umfassen dessen Krankenhäuser und medizinische Zentren vor allem moderne Untersuchungs- und Diagnoseabteilungen sowie Operationssäle. Der Schwerpunkt liege auf Onkologie sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Genesung. In Rumänien gibt es keine Unternehmen, die moderne Medizintechnik herstellen. Deshalb wird der Bedarf durch Importe gedeckt – größte Lieferanten sind Siemens, Philips und General Electric. Das Schweizer Unternehmen Roche ist mit den Abteilungen „Diagnoselösungen“ und „Forschung und Entwicklung“ beteiligt.
Literatur (Auswahl)
1. Gentiana Avrigeanu: Investitionen in den Gesundheitssektor Rumäniens. Switzerland Global Enterprise 21. Februar 2019, online (last accessed on 20 June 2023).
2. Merten M: Gesundheitssysteme Mittel- und Osteuropas (Teil 9) – Rumänien: Veränderungen brauchen Zeit. Dtsch Ärztebl 2008; 105 (19); 998–1.000.
3. www.laenderdaten.info (last accessed on 20 June 2023).
4. Gesundheitssystem in Rumänien – „Wir haben nur wenig Notärzte“. DER SPIEGEL, 11. Februar 2020.
5. WHO: Hohe Zahlungen aus eigener Tasche für Gesundheitsleistungen beeinträchtigen Fortschritte bei der Verwirklichung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung in Rumänien. World Health Organization Europe 29. August 2022, online (last accessed on 20 June 2023).
6. Statistisches Bundesamt: Deutschland mit höchsten Gesundheitsausgaben der EU. 20. März 2023, online (last accessed on 20 June 2023).
Entnommen aus MT im Dialog 9/2023
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