„Gen-Schere“ CRISPR/Cas9

Elf Jahre nach der Entdeckung wurde die erste CRISPR-Gentherapie zugelassen
Christof Goddemeier
Titelbild des Beitrags über die Entwicklung der CRISPR-Methode
© Artur/stock.adobe.com
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Im November letzten Jahres wurde in Großbritannien erstmals ein Medikament zugelassen, das auf der CRISPR-Technologie basiert. Anfang Dezember stimmte auch die US-amerikanische FDA einer Zulassung zu. Die neue Methode ermöglicht, das Genom lebender Organismen viel präziser als bisher zu verändern.

Ihre Entdeckung ist mit einem spröden Akronym verbunden, 2002 vom Niederländer Ruud Jansen erstmals verwendet. Wofür steht CRISPR/Cas9? CRISPR ist ein Abschnitt der Bakterien-DNA (Desoxyribonukleinsäure). 2011 beschrieb die Französin Emmanuelle Charpentier, wie CRISPR/Cas9 im Bakterium Streptococcus pyogenes aktiviert wird. Sie entdeckte ein bis dahin unbekanntes Molekül namens „tracr RNA“. Wie sich heraus- stellte, ist es Teil eines Immunsystems von Bakterien, mit dem diese sich gegen Viren verteidigen. Wenn ein Virus (Bakteriophage) ein Bakterium infiziert, kopiert die Bakterienzelle Teile der Viruserbsubstanz und baut sie in ihr eigenes Genom ein. Diese Abschnitte nennt man „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“, das heißt „Gehäufte, von regelmäßigen Abständen unterbrochene kurze Palindromwiederholungen“. Schaut man sich die DNA-Wiederholungssequenzen genauer an, zeigt sich, dass die Sequenzen in beiden Richtungen gelesen nahezu gleich sind – es handelt sich also wie beim Wort „Reliefpfeiler“ um Palindrome. Sie funktionieren wie „Erkennungssonden“ gegen das Virus. Wenn dieses erneut in die Bakterienzelle eindringt, kann die in den kurzen Palindromwiederholungen enthaltene Information schnell abgerufen werden. Der CRISPR/Cas9-Komplex identifiziert die Virus-DNA und zerschneidet sie. Dabei steht Cas9 für „Crispr assoziiertes Protein 9“ – eine Endonuklease, die letztlich den Schnitt durchführt. Die hohe Spezifität garantiert, dass Bakterien-DNA dabei nicht beschädigt wird. Diese Entdeckung schlug im Buch der Evolution eine neue Seite auf. Denn man kann damit theoretisch den Code des Lebens neu schreiben.

Erste Gentherapieversuche in den 1960er-Jahren

1953 beschrieben Francis Crick und James Watson die Doppelhelixstruktur der DNA. Bereits in den 1960er-Jahren gab es erste Versuche der Gentherapie. Von Anfang an spielten Viren dabei eine wichtige Rolle. Denn sie verfügen über einige Eigenschaften, die sie zu geeigneten Vektoren machen: Sie können sehr gut in alle möglichen Zellen eindringen und bringen diese dazu, weitere Kopien des Virusgenoms herzustellen. Dabei nutzen sie jede Schwachstelle in der zelleigenen Abwehr aus. Mit Viren als Vektoren gelingt es also, Gene mit nahezu 100 Prozent Sicherheit in Zielzellen einzuschleusen. Für diejenigen, die eine therapeutische Anwendung im Blick hatten, waren Virusvektoren der „Inbegriff des trojanischen Pferdes“ (Jennifer Doudna). Dabei können Viren ihre DNA nicht nur in Zellen einschleusen, sondern auch dafür sorgen, dass sie dort erhalten bleibt. Doch Bakterien warten nicht untätig darauf, von Viren infiziert zu werden, sondern haben wirksame Abwehrstrategien entwickelt. Außer CRISPR gibt es mindestens vier weitere bakterielle Abwehrsysteme.

Neuen Wind bekam die Gentherapie mit der Entwicklung „rekombinanter DNA“. Damit bezeichnet man genetische Information, die im Labor und nicht in der Natur hervorgebracht wird. Mit neuen biochemischen Verfahren gelang es in den 1970er- und 1980er-Jahren, DNA-Abschnitte auszuschneiden und in andere Genome einzufügen. Man baute therapeutische Gene in Viren ein und entfernte gefährliche Gene. So konnten die Viren den infizierten Zellen nicht mehr schaden. Sie fungierten als „gutartige Lenkflugkörper“ (Doudna), die ihr genetisches Gepäck an das gewünschte Ziel brachten, ohne dabei nennenswerte eigene Effekte zu zeigen.

Mit Gentherapie Krankheiten heilen?

Ende der 1980er-Jahre schleuste man im Labor hergestellte Gene mittels Retroviren in Mäuse ein. Sollte es möglich sein, mittels Gentherapie Krankheiten zu heilen? Die ersten Ergebnisse waren entmutigend. Seit 1961 war die schwere kombinierte Immundefizienz (SCID) be- kannt, eine seltene Erkrankung, die auf Mutationen im ADA-(Adenosindesaminase-)Gen beruht. Die Idee war nun, mit einem Vektor eine gesunde Kopie des ADA-Gens in die Zelle zu schleusen. Zwar richtete der Virusvektor keinen Schaden an, doch nur sehr wenige Patienten nahmen das gesunde ADA-Gen auf. Der Vektor war offensichtlich nicht so leistungsfähig wie erhofft. Verbesserungen der Virusvektoren und der Methoden zu ihrer Verabreichung waren die Folge. Eine zentrale Frage blieb indes: Wie findet die DNA eigentlich genau ihren Weg ins Genom?

Homologe Rekombination war aus der Entstehung von Ei- und Samenzelle bekannt. Mario Capecchi et al. beobachteten 1982, dass verabreichte Genkopien sich nicht zufällig auf die Chromosomen verteilen, sondern gehäuft in einem Abschnitt oder wenigen Abschnitten. Dabei überlappen sich viele Kopien, als ob sie absichtlich zusammengefügt worden wären – Auswirkungen der homologen Rekombination. Zellen können ihr eigenes Genom also großenteils selbst verändern. Capecchi schrieb: „Es wird interessant sein festzustellen, ob wir [die beteiligten Enzyme] nutzen können, um ein Gen durch homologe Rekombination gezielt an eine bestimmte Stelle in den Chromosomen zu befördern.“ Das neue Verfahren der Genmanipulation nannte man „gene targeting“. Heute ist es als „gene editing“, Redigieren von Genen oder Genom-Editierung bekannt. Bei der „Genadditionstherapie“ wird ein zusätzliches Gen in die Zelle eingeschleust, die defekte Genomsequenz aber nicht repariert. Dem gegenüber kann man mit Genom-Editierung gezielt die in der Zelle vorhandene genetische Information verändern.

CRISPR-Technologie verdrängte ZFNs und TALENs

Redigieren von Genen passiert auch spontan. In der Literatur finden sich Beispiele von Heilungen genetisch bedingter Krankheiten durch natürliches Redigieren von Genen, etwa bei WHIM-Syndrom (Warzen, Hypogammaglobulinämie, Infektionen, Myelokathexis), Wiskott-Aldrich-Syndrom und SCID. Das geschieht zum Beispiel durch Chromothripsis. Dabei wird ein Chromosom plötzlich zerstückelt und dann repariert; die darin enthaltenen Gene werden neu geordnet. Danach kann die betroffene Zelle entweder sofort absterben, krebserzeugende Gene aktivieren oder sich, wie im Fall der Heilung, von einer defekten Genkopie befreien. Doch die Aussicht, spontan von einer genetisch bedingten Krankheit geheilt zu werden, ist äußerst gering.

Ende der 1980er-Jahre war gene targeting bereits verbreitet. Doch eine Schwierigkeit bestand darin, geeignete Endonukleasen zu finden, die im Genom unter Milliarden Möglichkeiten genau die richtige Stelle zum Schneiden aufspüren. Mit der Endonuklease I-SceI, mit der Maria Jasin in New York experimentierte, gelang das nicht. Auch Zinkfingernukleasen (ZFNs, benannt nach ihren fingerähnlichen Ausstülpungen, mit denen sie DNA erkennen) und TALENs (Transkriptionsaktivator-ähnliche Effektoren und ihre Nukleasen) setzten sich nicht durch. Denn die CRISPR-Technologie verdrängte ZFNs und TALENs rasch.

Emmanuelle Charpentier (Jahrgang 1968) studierte Biochemie, Mikrobiologie und Genetik in Paris; 2013 habilitierte sie sich in Medizinischer Mikrobiologie. Seit 2018 ist sie Direktorin der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene in Berlin. Jennifer A. Doudna (Jahrgang 1964) studierte Biochemie und forschte zur Kristallstruktur enzymatisch aktiver RNA-Moleküle (Ribozyme). 1994 wurde sie Professorin an der Yale University; seit 2003 lehrt und forscht sie an der University of California in Berkeley. 2012 veröffentlichten Charpentier und Doudna ihre grundlegende Arbeit zur CRISPR/Cas-Technologie (Science 2012; 337: 816–21). Hier zeigten sie, dass man die Cas9-Endonuklease mit einer Leit-RNA so programmieren kann, dass sie jede doppelsträngige DNA-Sequenz an jeder gewünschten Stelle schneidet. Ein Jahr später fusionierten sie „tracr-RNA“ und „crRNA“ zu einem „single-guide RNA molecule“ (sgRNA), was die Herstellung von individuellen „Gen-Scheren“ erheblich vereinfachte und verbesserte (Science 2013; 339: 823–6). 2020 erhielten sie dafür den Nobelpreis für Chemie.

2018 weckte eine Studie Zweifel an der hohen Spezifität von CRISPR/Cas: Allan Bradley et al. vom Wellcome Sanger Institute im britischen Hinxton wiesen in mehreren Experimenten unerwünschte Beschädigungen des Genoms durch CRISPR/Cas nach. Die wissenschaftliche Welt reagierte gemischt – die Studie widersprach zahlreichen bis dahin gemachten Beobachtungen. Klar ist allen Beteiligten: Vor einer klinischen Anwendung muss man mit allen verfügbaren Mitteln nach Fehlern suchen. Dabei geht es auch um viel Geld: Der Wert der CRISPR-Technologie wird auf mehrere Milliarden Euro geschätzt. Hunderte Millionen Euro Kapital sind bereits in Unternehmen geflossen, die mit der neuen Methode Krankheiten bekämpfen wollen.

Behandlung der Sichelzellanämie

Die US-Amerikanerin Victoria Gray leidet an der Sichelzellanämie. 2019 wurde sie als Erste mit einer Gentherapie auf der Grundlage von CRISPR/Cas behandelt. Das neue Medikament Exa-cel (Handelsname Casgevy®, hergestellt von den Unternehmen Vertex Pharmaceuticals und CRISPR Therapeutics mit Hauptsitzen in den USA und der Schweiz) ist nun für die Behandlung der Sichelzellanämie und der Beta-Thalassämie bei Patienten ab zwölf Jahren zugelassen. Beide Bluterkrankungen werden durch Defekte im Gen für das Hämoglobinmolekül verursacht. Exa-cel verändert die fehlerhaften Gene im Knochenmark der Betroffenen, damit sie funktionsfähiges Hämoglobin produzieren können. Dafür entnimmt man dem Knochenmark der Patienten Stammzellen, bearbeitet sie im Labor und gibt sie den Patienten zurück. Ein mehrwöchiger Krankenhausaufenthalt ist dazu nötig. Die Ergebnisse der klinischen Studien sind ermutigend: 97 Prozent der Sichelzellanämie-Patienten waren mindestens ein Jahr lang frei von schweren Schmerzanfällen, und 93 Prozent der Beta-Thalassämie-Patienten benötigten mindestens ein Jahr lang keine Bluttransfusionen. Doch die Behandlung ist komplex und hat Nebenwirkungen. Laut PD Dr. med. Joachim Kunz vom Universitätsklinikum Heidelberg wird sie pro Jahr nur für eine begrenzte Zahl von Patienten zur Verfügung stehen. Und unklar ist derzeit, wie lange der Effekt der Therapie anhält – die Lebensdauer der manipulierten Stammzellen könnte zum Beispiel verkürzt sein.

Weitere mögliche Anwendungen der CRISPR-Methode betreffen andere monogene Erkrankungen, etwa Mukopolysaccharidose Typ 2 (Morbus Hunter) und Hämophilie. Bei Infektionskrankheiten versucht man mittels Genom-Editierung, die Wirtsresistenz zu erhöhen und pathogene Genome zu entfernen oder zu inaktivieren, etwa bei HIV. In der Onkologie entwickeln Forscher mit der neuen Methode die Therapie mit chimären Antigenrezeptor-T-Zellen (CAR-T-Zellen) weiter.

Die Anwendung der „Designer-Nuklease“ CRISPR/Cas ist nicht auf die Medizin beschränkt. Sie wird genutzt, um das Genom von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen zu verändern. Doudna zufolge kann die Methode gegen den Klimawandel helfen: Forscher arbeiten zum Beispiel daran, das Mikrobiom von Kühen so zu verändern, dass sie weniger Methan ausstoßen. Charpentier und Doudna haben sich gegen die Anwendung von CRISPR/Cas in der menschlichen Keimbahn ausgesprochen. In Deutschland ist die Anwendung an Keimbahnzellen verboten; in anderen Ländern wird indes auch an Embryonen geforscht.

 


Literatur (Auswahl)

1. Doudna JA, Sternberg SH: Eingriff in die Evolution – Die Macht der CRISPR Technologie und die Frage, wie wir sie nutzen wollen. Berlin: Springer Verlag 2018.

2. Richter-Kuhlmann E: Nobelpreis Chemie – Revolutionäre Genschere. Deutsches Ärzteblatt 42 (2020): 1974–5.

3. Chandrasegaran S, Caroll D: Origins of Programmable Nucleases for Genome Engineering. J Mol Biol. 27 Feb 2016; 428 (5 Pt B): 963–89.

 

Entnommen aus MT im Dialog 5/2024

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