Frau Dreyling-Riesop, könnten Sie uns zunächst etwas zu ihrer Person erzählen?
Frau Heidrun Dreyling-Riesop: Ich bin Altenpflegerin, hatte aber auch in der Kranken- und Heilerziehungspflege gearbeitet. Ein Lehramtsstudium Sonderpädagogik mit dem Fach Geschichte musste ich in den 1990er-Jahren leider aus familiären Gründen abbrechen, erklärt aber mein Interesse an geschichtlichen Themen zur Pflege, allerdings aus der Sicht einer Pflegekraft. Mich ärgert es, dass die Geschichte der Medizin an vielen Pflegeschulen als Pflegegeschichte verkauft wird und unsere Berufsgeschichte oft nur am Rande erwähnt wird. Häufig beschränkt es sich auf einige Sätze zu Florence Nightingale und Agnes Karll und das war’s. Wenn wir uns als Pflegekräfte endlich emanzipieren wollen, sollte der Schwerpunkt auf unserer eigenen Berufsgeschichte liegen und nicht auf der Geschichte einer anderen, wenn auch nahen Berufsgruppe, die allerdings unseren Beruf sehr lange dominierte, was nicht unbedingt zu unserem Berufsverständnis und Selbstbewusstsein beitrug. Die Geschichte der Pflege war schon immer ein Hobby von mir und altersbedingt und beruflich war ich entsprechend nahe an der jüngsten Pflegegeschichte dran. Da ich wusste, dass ich früher oder später durch einen alten Sportunfall berufsunfähig werde und in Berlin bereits Unterrichtserfahrung gesammelt hatte, absolvierte ich von 2002 bis 2005 die Weiterbildung zur Lehrkraft für Pflegeberufe. Geplant hatte ich, halb in der Pflege und halb in der Ausbildung zu arbeiten, was ich optimal finde, weil dadurch die Verbindung zur Praxis nicht abreißt. Daraus wurde nichts, weil dazumal mein Ellenbogen streikte. Während der Ausbildung übernahm ich im Unterrichtspraktikum an einer Altenpflegeschule den Unterricht in Berufskunde und Pflegegeschichte. Eine spannende Aufgabe, zumal mich die Altenpflegeschüler/-innen veranlassten, in meiner Freizeit das virtuelle Denkmal „Gerechte der Pflege“ aufzubauen.
Was ist das virtuelle Denkmal „Gerechte der Pflege“?
Heidrun Dreyling-Riesop: Als ich in dieser Altenpflegeklasse den Nationalsozialismus durchnahm, fragten mich die Schüler/-innen, ob alle Pflegekräfte z.B. die Euthanasie mittrugen, ob es Pflegekräfte im Widerstand gab, was aus den jüdischen Krankenschwestern wurde? Das waren sehr gute Fragen, die ich kaum beantworten konnte. Seitdem fahnde ich nach genau diesen Pflegekräften und bemühe mich, ihr Leben so weit wie möglich zu recherchieren. Im Internet habe ich das virtuelle Denkmal unter der Adresse hriesop.beepworld.de eingerichtet, um diese Pflegekräfte dem Vergessen zu entreißen. Wir haben nämlich unsere eigenen Heldinnen und Helden und leider auch sehr viele Opfer zu beklagen. Bedauerlicherweise hatte ich oft zu wenig Zeit für das Denkmal, weil ich mich immer wieder in neue Aufgabengebiete einarbeiten musste. So leitete ich nach der Weiterbildung Fortbildungen für Gerontopsychiatrische Fachkräfte und Lehrkräfte für Pflegeberufe zum Thema PTBS/PTR und unterrichtete an Schulen für Altenpflege und Altenpflegehilfe. Schließlich kam ich eher durch Zufall an eine Berufsfachschule für Sozialpflege.
Was kann man sich unter der Sozialpflege vorstellen?
Heidrun Dreyling-Riesop: In Bayern umfasst die zweijährige schulische Ausbildung mit Praxisbezug die drei einjährigen Ausbildungsgänge der Kranken-, Alten- und Heilerziehungspflegehilfe. Der Vorteil ist, dass die Schüler eine abgeschlossene Berufsausbildung erwerben, sich nicht von vornherein auf einen Pflegebereich festlegen müssen, die Möglichkeit bekommen, sehr unterschiedliche Einrichtungen kennenzulernen und ihre eigenen Neigungen und Fähigkeiten herausfinden. Für mich war es von Vorteil, dass ich in allen drei Bereichen gute Kenntnisse und Berufserfahrung mitbrachte. Es reizte mich außerdem, sehr junge Menschen, überwiegend bei Ausbildungsbeginn im Alter von 14 bis 16 Jahre, an den Pflegeberuf heranzuführen. Wenn ich schon nicht mehr selber direkt in der Pflege arbeiten konnte, wollte ich zumindest daran mitwirken, den immer dringender benötigten Nachwuchs zu fördern. Da es leider an geeigneten Lehrbüchern fehlte, baute ich für die Sozialpflege eine frei zugängliche Homepage auf, die alle drei Pflegebereiche abdeckte und nicht nur von meinen Schülern/-innen eifrig genutzt wurde. Als mein Ruhestand nahte, wollte die Schule diese Homepage allerdings nicht übernehmen, sodass ich auf den Kosten alleine sitzengeblieben wäre. Daher war ich gezwungen, angesichts meiner zu erwartenden großartigen Rente nach vier Jahrzehnten Pflege, die Homepage aufzugeben. Ich bin quasi die lebende Warnung an Pflegekräfte, für eine leistungsgerechte Bezahlung zu kämpfen. Da es unbefriedigend ist, seine eigene Arbeit zu zerstören, suchte ich nach Möglichkeiten, das Wissen der Homepage weiterzugeben. So entstanden die Fachbücher „Sozialpflegerische Praxis“, „Theorie und Grundlagen pflegerischen Handelns“, die Serie „Der Einstieg in den Aufstieg“ und natürlich auch Bücher zu meinen Spezialgebieten Geschichte der Pflege und Kultursensible Pflege. Im Sommer 2020 bildete ich mir ein, im wohlverdienten Ruhestand mehr Zeit für die Bücher und vor allem mein virtuelles Denkmal zu haben. Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.
Woran scheiterten Ihre Pläne?
Heidrun Dreyling-Riesop: Kurz und knapp beantwortet: an der Pandemie. COVID-19 überholte eiskalt meine Pläne. Viele meiner Sozialpfleger/-innen begnügen sich nicht mit der Ausbildung, sondern streben anschließend eine dreijährige Ausbildung zur Fachkraft Gesundheits- und Krankenpflege, Kinderkrankenpflege, Altenpflege oder Heilerziehungspflege an. Da ich mit sehr vielen ehemaligen Schülerinnen und Schülern nach wie vor in Kontakt bin, erreichten mich zunächst verzweifelte Hilferufe derjenigen, die gerade im dritten Ausbildungsjahr waren und nun unter den Bedingungen um ihren Abschluss fürchteten. Ich versuchte mit ihnen eine Öffentlichkeit über die Medien für ihre Probleme herzustellen. Sehr schnell meldeten sich auch Azubis aus dem gesamten Bundesgebiet mit gleichen Schwierigkeiten. Zunächst bombardierte ich regelrecht Politiker und Verantwortliche in den sozialen Netzwerken mit Kommentaren zur Situation der Auszubildenden, startete schließlich eine Petition „Pflegeschüler: Opfer der Coronakrise? Prüfung ersetzen durch Vornoten“. Außerdem reichte ich ähnliche Petitionen direkt bei der Bundesregierung und verschiedenen Landesregierungen ein. Insoweit war die Petition ein Misserfolg, weil die Prüfungen stattfanden. Gerade die praktischen Prüfungen mutierten zu einer Farce. Allerdings wurden die Prüfungen nicht, wie anfangs geplant, einfach um ein halbes Jahr zu Lasten der Azubis verschoben. Die mehr wie deutliche Kritik am praktizierten Distanzunterricht brachte doch Ausbilder zum Nachdenken. Außerdem stand die Drohung im Raum, dass die Prüfungen im Falle des Nichtbestehens juristisch angreifbar sind aufgrund der fehlenden Vergleichbarkeit. Indirekt brachte dieser Aufstand also doch etwas. Man muss sich nicht alles gefallen lassen. Und nach diesem Stress feierte ich im Dezember dann als Rentnerin mein Comeback in der Pflege.
Was verstehen Sie unter Comeback?
Heidrun Dreyling-Riesop: Ich hatte sehr lange überlegt, ob ich mich beim Pflegepool Bayern melde, um ehrenamtlich in Pflegeeinrichtungen auszuhelfen. Auf der einen Seite war ich dagegen, zum einen, weil mein Mann und ich selber zur Risikogruppe gehören, zum anderen, weil die Probleme in der Pflege ja nicht urplötzlich vom Himmel gefallen waren. Ich schimpfte mich selber einen Trottel, wenn ich ehrenamtlich arbeite und damit helfe, ein krankes System auf Kosten der Pflegekräfte zu kitten. Andererseits waren dort Kollegen/-innen am Rande der Belastbarkeit. Jahrelang hatte ich Pflegekräfte nicht nur ausgebildet, sondern versucht, sie für den Pflegeberuf zu begeistern. Natürlich hatte ich mich über die Entlohnung und Arbeitsbedingungen jahrzehntelang maßlos geärgert, dennoch war es für mich immer der Beruf, in dem ich einen Sinn sah, der abwechslungsreich und interessant war, der mir trotz allem Spaß machte. Nun sollte ich die Kollegen/-innen im Stich lassen? Das ging nicht. Also meldete ich mich zähneknirschend doch im Pflegepool an und trat zunächst in einem Altenheim mit COVID-Ausbruch den Dienst an. Die ersten Tage waren knüppelhart, denn ich hatte in der Praxis ja seit 2002 nicht mehr gearbeitet. Hätten meine ehemaligen Schüler mich gesehen, hätten sie sich kaputtgelacht, denn die Alte lief die erste Woche nicht nach Hause, sondern kroch eher auf allen Vieren heimwärts. Dazu kam das zusätzliche Problem, dass die Besetzung der Station jeden Tag wechselte und oft arbeitete ich mit einer Kollegin oder Kollegen, die wie ich ebenfalls Aushilfe war und sich nicht auskannte. Da freute sich beispielsweise ein Kollege darüber, dass er sich ja an seinem ersten Tag in der Einrichtung auf mich verlassen könne. Pech gehabt, ich kannte mich dort genauso gut aus wie er. Das ergab ein „fröhliches“ Suchen und erforderte Kreativität. Erstaunlicherweise bekamen wir die Situation in den Griff und unter diesen Umständen dennoch die Bewohner/-innen gut versorgt. Nachdem diese Einrichtung wieder ausreichend Personal hatte, freute ich mich auf mein gemütliches Rentnerdasein und das virtuelle Denkmal, was nicht lange währte, da die nächste Pflegeeinrichtung in Corona-Nöte geriet. Nichtsdestotrotz nahm ich drei positive Erfahrungen mit. Erstens hielt mein Ellenbogen die Belastung aus. Zweitens begriffen die Kollegen/-innen, warum ich da war, nicht als „Depp“, der das kaputtgesparte Gesundheitssystem unterstützt, indem er unentgeltlich arbeitet, sondern aus solidarischen Gründen. Es wurde begriffen, worum es mir ging, das war mir wichtig. Und drittens bewunderte ich die Bewohner/-innen, wie pragmatisch sie die Situation hinnahmen. Da können sich viele Leute eine dicke Scheibe von abschneiden. Dennoch machte ich meinem Ärger über die Verhältnisse in der Pflege Luft mit dem Buch Pflexit. Leider werden es diejenigen, die die Missstände in der Pflege beseitigen könnten, nicht lesen. Ich sehe etwas schwarz, dass sich absehbar nachhaltig etwas ändern wird. Ich hoffe nur, dass wir die Pandemie endlich so weit in den Griff bekommen, dass das Gesundheitssystem nicht endgültig kollabiert. Dazu gehört auch Aufklärungsarbeit. Mein Beitrag dazu ist das Buch „Infektionskrankheiten - Von der Pest bis COVID-19“.
Wen möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen?
Heidrun Dreyling-Riesop: Das Buch richtet sich in erster Linie an Fachpflegehelfer/-innen, Sozialpfleger/-innen und auch an medizinische Laien. Aufgrund meiner Erfahrung als Pflegelehrerin an einer Berufsfachschule für Sozialpflege setze ich erst einmal überhaupt keine Grundkenntnisse voraus und beginne bei Stunde Null. Ich weiß, wie viele Grundkenntnisse viele Schüler/-innen mitbringen, nämlich mangelhaft bis keine, die aber vorausgesetzt werden. Wer keine Grundkenntnisse zur Zelle hat, für den bleiben Mutanten „böhmische Dörfer“. Es erklärt, warum viele Schüler/-innen dann einfach abschalten, zumal bei diesem Personenkreis bisher Infektionskrankheiten als Akuterkrankungen in den Prüfungen kaum bis gar keine Rolle spielten. Entsprechend wird es auch unterrichtet, denn bei der Stofffülle steht der Prüfungsstoff logischerweise im Vordergrund. Mit Schrecken stellte ich vor einem Jahr fest, dass besonders viele Pflegekräfte in der Altenpflege empfänglich waren für Verschwörungstheorien oder sich als Impfgegner outeten. Das war eigentlich der Anlass zu dem Buch, gewissermaßen eine Antwort in Form eines leicht verständlichen Buches zu den Infektionskrankheiten, auch mit Rückblicken in die Vergangenheit. Da waren natürlich z.B. die Cholera-Epidemie 1892 in Hamburg oder die Grippe-Pandemie 1918-1920 interessant, besonders die damalige Bekämpfung der Seuchen, denn Lockdown und Masken sind keine neue Erfindung. Das sind altbewährte Mittel zur Bekämpfung einer Epidemie oder Pandemie. Wesentlich war für mich auch die Klarstellung, dass die derzeitige Pandemie ein Problem ist, aber nicht das einzige. Durch die Globalisierung in Verbindung mit dem Klimawandel und Antibiotikamissbrauch werden bzw. sind die Infektionskrankheiten die Herausforderung unserer Zeit. Dazu müssen auch Pflegehelfer/-innen geschult werden. Wir können es uns heutzutage absolut nicht leisten, auf gute Fachpflegehelfer/-innen zu verzichten. Das erklärt auch den Teil 4 des Buches. Ein Stichwortverzeichnis habe ich mir sehr bewusst verkniffen, weil für mich die Erklärungen zu den Fachbegriffen wichtiger waren. Nach meinen Erfahrungen klinken sich Schüler/-innen sehr schnell aus, wenn sie mit Fachbegriffen konfrontiert werden, die ihnen unbekannt sind. Eine zeitnahe Übersetzung ohne große Suchaktion ist einfach wirkungsvoll. Nebenbei werden die Fachbegriffe aber auch gelernt, worauf ich Wert lege und die sie in der Praxis auch brauchen. Ich möchte also mit meinem Buch anderen bestimmt gehaltvolleren Büchern zu dem Thema keine Konkurrenz machen, sondern möchte die Personen sprachlich abholen, für die die übliche Fachliteratur „eine Nummer zu groß“ ist. Natürlich hoffe ich auch darauf, wenn jemand erst einmal einen verständlichen Einstieg in die Thematik gewonnen hat, dass er sich dann auch an weiterführende Fachliteratur herantraut.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Heidrun Dreyling-Riesop: Dass endlich in der Pflege nicht nur „Deformen“ und „Reförmchen“ umgesetzt, sondern das Gesundheitssystem und die Pflegeausbildung von Grund auf saniert werden. Nicht nur Pflegekräfte müssen ihren Wert erkennen, sondern auch die Politik. Pflege darf nicht nur Wahlkampfthema sein, sondern alle Menschen müssen ihren Stellenwert begreifen. Beifallsbekundungen oder Klatschen im Notfall reichen nicht, davon kann keine Pflegekraft die Miete zahlen. Der Pflexit muss gestoppt werden, dass ist allerdings nur möglich, wenn unsere Gesellschaft sich ihrer Verantwortung gegenüber der Pflege bewusst wird. Es kann nicht sein, dass die Qualitätsansprüche an die Pflege ständig steigen und sich die Arbeitsbedingungen gleichzeitig stetig verschlechtern. Eine Pandemie ist vor der Pandemie. Noch haben wir es in der Hand zu entscheiden, ob die nächste Pandemie in einer endgültigen Katastrophe endet. Es ist nicht 5 vor 12, es ist bereits 10 nach 12. Darum hoffe ich, dass vielleicht auch medizinische Laien mal ihre Nase in die „Infektionskrankheiten - Von der Pest bis COVID-19“ stecken.
Ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Das Interview führte Hardy-Thorsten Panknin.
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