Der Mediziner und Histologe ­Camillo Golgi (1843–1926)

Neue Ära der Neuroanatomie, ­Nobelpreis 1906
Christof Goddemeier
Porträtfoto vob Camillo Golgi
Porträt von Camillo Golgi Source: Wellcome Collection, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
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Camillo Golgis Werk „Sulla fina anatomia degli organi cen­trali del sistema nervoso“ erschien 1886 in Mailand. Die ins Deutsche übertragene Fassung (1894) widmete der Autor „in hoher Dankbarkeit und Verehrung“ der „Würzburger Medicinischen Fakultät“.

Zur deutschsprachigen Veröffentlichung kam es auf Initiative des Verlegers Gustav Fischer und wegen der „vielen Nachfragen, welche an mich gerichtet wurden, theils (sic!) wegen der wohlwollenden Aufnahme, welche meine Untersuchungen in letzter Zeit besonders in Deutschland gefunden haben (...)“. Golgi behielt die ursprüngliche Form bei und verzichtete darauf, neue Erkenntnisse einzufügen und Überholtes wegzulassen.

Zuvor hatte die Würzburger Universität Golgi den Franz-von-­Rinecker-Preis verliehen. In der Begründung hieß es: „Camillo Golgi hat durch seine von ihm ausgedachte Methode der Färbung der Elemente des Nervensystems durch Silbersalze oder Sublimat eine ganz neue Ära in der feinen Anatomie des Nervensystems eröffnet. Ihm gelang es zum ersten Male, die genauen Formen der wesentlichsten Elemente des Gehirns und Rückenmarkes, der Nervenzellen und ihrer Ausläufer darzustellen (…)“ Die Medizinische Fakultät, vertreten durch den Dekan Adolf Fick, würdigte Golgi deshalb „als einen Forscher ersten Ranges“. Der Preis war mit „1.000 Mark“ dotiert. 1906 erhielt Golgi zusammen mit dem Spanier Santiago Ramón y Cajal (1852–1934) „in Anerkennung ihrer Arbeiten zur Struktur des Nervensystems“ den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Entdeckung des Golgi-Apparats

Aus einer zufälligen Beobachtung entwickelte Golgi die „reazione nera“ (schwarze Reaktion), eine Silbersalz-Imprägnation, mit der sich erstmals einzelne Nervenzellen vollständig und mit einer Klarheit darstellen ließen, die es zuvor nicht gab. 1873 veröffentlichte er sie zum ersten Mal, wann er sie entdeckt hat, ist nicht genau bekannt. Der Anatom und Physiologe Albert von Koelliker (1817–1905), Professor in Zürich und Würzburg, machte die mikroskopische Anatomie zu einem eigenständigen medizinischen Lehrfach und trug wesentlich zur internationalen Verbreitung von Golgis Methode bei. Golgi suchte sein Verfahren immer weiter zu verbessern und entdeckte damit in der Zelle den nach ihm benannten Golgi-Apparat. 1875 beschrieb er die Golgi-Zellen in der Kleinhirnrinde. Auch die von ihm entdeckten Sehnenorgane tragen seinen Namen. Ab 1885 beschäftigte er sich zudem mit der Malaria und fand bald, dass der Fieberanfall mit der Segmentierung des Plasmodiums (Sporulation) zusammenfällt – eine grundlegende Entdeckung in der Malariaforschung. 1890 beschrieb er die drei Erreger der Malaria und entwickelte eine Methode, den Lebenszyklus der Plasmodien zu fotografieren.

Golgi wurde 1843 in Corteno nahe Brescia geboren, der Vater war Arzt. Golgi studierte Medizin in Pavia und wurde dort promoviert. Zu seinen akademischen Lehrern gehörte auch Paolo Mantegazza, ein Pionier der Sexualwissenschaft, die sich jedoch erst später als eigenständiges Fach etablierte. Nach eigenem Bekunden war Golgi maßgeblich von seinem Lehrer Giulio Bizzozero beeinflusst, vom drei Jahre Jüngeren lernte er etwa das wissenschaftliche Handwerk. Nach dem Studium ar­beitete er zunächst am Ospedale S. Matteo. Zu dieser Zeit interessierte er sich für Neurologie, das Phänomen Wahn und das lymphatische System des Gehirns. 1872 übernahm er die Leitung des Krankenhauses für chronische Erkrankungen in Abbiategrasso. Seinem Lebenslauf auf der Nobelpreis-Website kann man entnehmen, dass er dort eine Küche zum Labor umbauen ließ und mit der Erforschung des Nervensystems begann.

Vier Jahre später kehrte er nach Pavia zurück und wurde dort zunächst Außerordentlicher Professor für Histologie. 1881 folgte er seinem Lehrer Bizzozero auf den Lehrstuhl für Allgemeine Pathologie und übernahm die Leitung des Instituts. Er ließ sich in Pavia nieder und heiratete Lina Aletti, eine Nichte Bizzozeros. Die Ehe blieb kinderlos, das Paar adoptierte eine Nichte Golgis. Golgi wird als weithin bekannter Lehrer geschildert, dessen Labor jedem offen stand, der sich in der Forschung engagieren wollte. Er arbeitete nie klinisch, begründete und leitete aber das Istituto Sieroterapico-Vaccinogeno der Provinz von Pavia. Außerdem war er viele Jahre als Rektor der Universität tätig und hatte im Königreich Italien das Amt eines Senators inne. Obwohl er zu Beginn des Ersten Weltkriegs bereits 71 Jahre alt war, baute er in einem Militärhospital ein Institut auf, in dem periphere Nervenläsionen erforscht und behandelt wurden. Bezüglich Golgis Person gehen die Einschätzungen auseinander. Das Nobelpreiskomitee schildert ihn bezüglich seiner Arbeit als „extrem bescheiden und zurückhaltend“. Ramón y Cajal schrieb indes in seinen Lebenserinnerungen über Golgi: „Einer der am meisten eingebildeten und sich selbst beweihräuchernden begabten Männer, die ich je gekannt habe.“

Golgi blieb zeitlebens „Retikularist“

1839 begründeten Theodor Schwann und Matthias Schleiden die Zelltheorie. Allerdings waren sie der Meinung, dass die Zellen durch Kondensation von Materie entstehen, die noch nicht zellulär organisiert ist – eine Fehleinschätzung, die Rudolf Virchow 1855 korrigierte: „Omnia cellula e cellula“ („Jede Zelle entsteht aus einer Zelle“). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wandte man sich gezielt dem Nervengewebe zu. Dabei kamen Zweifel auf, ob die Zelltheorie auch für das Nervensystem Geltung habe. Denn unter dem Mikroskop sah man zwar Zellkörper, aber auch sehr viele Faserstrukturen. Robert Remak fand, dass jede Nervenfaser zu einem Zellkörper führt, Otto Deiters unterschied als Erster zwischen den verschiedenen Fortsätzen der Nervenzelle, die man dann als Achsenzylinder (Axon) und Dendriten bezeichnete. Doch die histologischen Beobachtungen waren noch ungenau. Daher sah man das Nervengewebe als Netzwerk (Retikulum) von Zellkörpern und Nervenfasern an und postulierte eine Signalweiterleitung entlang der Fasern. Golgi teilte diese Auffassung und verabschiedete sich nie von ihr, er blieb zeitlebens „Retikularist“ (L. Peichl, E. Seyfarth). Ramón y Cajal und andere „Neuronisten“ fassten dagegen das Neuron als funktionelle Einheit auf, die von anderen Neuronen getrennt ist. Ramón y Cajals Konzept der „dynamischen Polarisierung“ besagt, dass die Reizweiterleitung im Neuron nur in einer Richtung verläuft: von den Dendriten durch den Zellkörper und entlang des Axons zur präsynaptischen Endigung.

In Stockholm trafen Golgi und Ramón y Cajal sich zum ersten Mal. Beide waren anerkannte Wissenschaftler, die eigene Schulen begründet hatten. Doch die Begegnung war offenbar nicht von gegenseitiger Anerkennung geprägt. In seinem Nobelvortrag am 11. Dezember beharrte Golgi: „Ich muss hier erklären, dass, als die Neuronentheorie triumphierend und mit beinahe einhelliger Zustimmung in die wissenschaftliche Welt einzog, ich mich außerstande sah, dieser vorherrschenden Meinung zu folgen, weil ich mit einer konkreten anatomischen Tatsache konfrontiert war, die ich das diffuse nervale Netzwerk nannte. (...) Wir müssen uns eingestehen, dass wir nur deshalb annehmen, sie [die Neuronen] seien unabhängig, weil wir keinen Beweis für engere Verbindungen zwischen ihnen haben.“ Der Beweis für die physiologische Unabhängigkeit des Neurons und die dynamische Polarisierung, den man etwa im Wallerschen Gesetz zu finden suchte, ist für Golgi „vollkommen wertlos“. In der Lehre von der dynamischen Polarisierung sah er eine „Flucht vor jeder exakten physiologischen Unter­suchung“. Sie sei lediglich eine Möglichkeit, sich die physiologischen Abläufe vorzustellen. Beinahe trotzig klingt es, wenn er sagt: „Bis jetzt konnte niemand die Möglichkeit ausschließen, dass zwischen den Elementen des Nervensystems vom Beginn ihrer Entwicklung eine Verbindung besteht. Selbst wenn diese Elemente ursprünglich unabhängig waren, wäre man nicht in der Lage zu zeigen, dass diese Unabhängigkeit bestehen bleibt.“ (Übersetzung d. d. Verfasser) Ramón y Cajal entgegnete sachlich – die Fakten sprachen für seine Annahme. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etablierte sich die Neuronenlehre und bildet seitdem die Grundlage unseres Verständnisses des Nervensystems. Die Entdeckung der Synapsen und der Signalübermittlung zwischen Nervenzellen mittels erregender und hemmender Transmitter wäre ohne diese Theorie nicht denkbar gewesen (L. Peichl, E. Seyfarth). So markiert sie das „erste einschneidende Ergebnis neurobio­logischer Forschung“ (R. Illing).

„Feine Ironie der Geschichte“

Johannes von Purkinje erkannte als einer der Ersten, dass die Nervenzellen sich in ihrer Gestalt unterscheiden. In histologischen Präparaten des Kleinhirns fand er etwa, dass bestimmte Zellen asymmetrisch und in einer bestimmten Richtung angeordnet waren. Sie sind nach ihm als Purkinje-Zellen benannt. Diese Zellen erhalten inhibitorische Zuflüsse aus Stern- und Korbzellen sowie aus den nach Golgi benannten Zellen. Diese liegen in der Körnerschicht unterhalb der Ebene der Purkinje-Zellen. Sie haben größere Perikaryen als die Körnerzellen, stark verzweigte Dendriten, die in die (oberste) Molekularschicht aufsteigen, und ein Axon, das durch die Bildung von Kollateralen büschelförmig erscheint. Alle Neuronen der Kleinhirnrinde bis auf die Körnerzellen wirken hemmend – damit ist sie der einzige Ort im zentralen Nervensystem, an dem die Hemmung derart überwiegt.

Der von Golgi beschriebene gleichnamige Apparat gehört zu den Zellorganellen und strukturiert neben dem Endoplasmatischen Retikulum mit seinen Membranen das Zytoplasma. Die Membranen schaffen Permeabilitätsschranken und bilden damit die Grundlage für Reaktionen und Regulationen in der Zelle. Der Golgi-Apparat besteht aus mehreren Golgi-Feldern, Diktyosomen, die polar organisiert sind. In Drüsenzellen wandern Vorstufen von Proteinsekreten aus dem Endoplasmatischen Retikulum zum Golgi-Feld, werden hier kondensiert, in Transportvesikel verpackt und aus der Zelle ausgeschleust. Zudem produziert der Golgi-Apparat Lysosomen. Als intrazelluläres „Verdauungssystem“ bauen diese zum Beispiel alte Zell­organellen ab.

Die Golgi-Sehnenorgane gehören mit den Muskelspindeln zur Tiefensensibilität (Propriozeption). Sie informieren über Lage und Bewegungen des Körpers und lösen Reflexe aus. Nach ihrem „adäquaten Reiz“ sind sie „Dehnungsrezeptoren“ und liefern auf Rückenmarksebene afferente Zuflüsse über den Dehnungszustand der Muskulatur. Dabei sind Sehnenorgane im Muskel in der Regel etwas weniger zahlreich als Muskelspindeln. Diese liegen parallel, die Sehnenorgane dagegen in Serie zur Muskulatur. Damit registrieren Muskelspindeln vorwiegend die Länge des Muskels und Sehnenorgane vorwiegend seine Spannung.

„Feine Ironie der Geschichte“: So beschreiben Peichl und Seyfarth den Umstand, dass Ramón y Cajal und andere Neuronisten mit Golgis neuer Färbemethode die stärksten Belege für ihre Theorie fanden. Doch der Erfinder der Färbung wollte sich davon partout nicht überzeugen lassen.


Literatur

1. Golgi C: Untersuchungen über den feineren Bau des centralen und peripherischen Nervensystems. Aus dem Italienischen übersetzt von Dr. R. Teuscher. Mit einem Atlas von 30 Tafeln und 2 Figuren im Text. Jena: Gustav Fischer Verlag, 1894.

2. Illing RB: Geschichte der Neurobiologie. In: Lexikon der Biologie. ­Spektrum.de, letzter Zugriff am 02.04.2024.

3. Leonhardt H: Histologie, Zytologie und Mikroanatomie des Menschen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 7. Auflage 1985.

4. nobelprize.org, letzter Zugriff am 02.04.2024.

5. Peichl L, Seyfarth EA: Vor 100 Jahren: Nobelpreis für Golgi und Ramón y Cajal. In: Neuroforum 4/06, 266–67.

6. Schmidt RF, Thews G (Hrsg.): Physiologie des Menschen. Berlin: Springer-Verlag, 22. Auflage 1985.

 

Entnommen aus MT im Dialog 9/2024

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