Das erworbene Immunmangelsyndrom (Teil 1)
Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation, die auf dem Washingtoner Kongress im Mai 1987 von Jonathan Mann vorgetragen wurden, beschreiben AIDS als die „Seuche der Moderne“, der mit Zwangsmaßnahmen nicht beizukommen ist. Die gegenwärtige Diskussion um AIDS ist ruhiger und auch sachlicher geworden. Die Ausbreitung der Infektionskrankheit scheint sich – jedenfalls in der westlichen Welt – zu verlangsamen (siehe Zusatzinfo online). Keine Krankheit hat in den vergangenen Jahren so viel Panik hervorgerufen wie AIDS, indem sich die seit Jahrtausenden den Seuchen, der Homosexualität und dem Tod geltenden Ängste und Tabus miteinander vermengen [7]. Hier haben besonders die Massenmedien – wie die Boulevardpresse und das Fernsehen – die Infektionskrankheit „AIDS“ in der Bevölkerung bewusst gemacht und in ihrer Berichterstattung häufig „pure Angst“ vor Ansteckung verbreitet. Diese Berichte sind charakteristisch für die Behandlung des Themas zu jener Zeit: Aufgrund der zunehmenden Zahl von Kasuistiken vermischten sich Richtiges, Falsches, Mutmaßungen, begründete und unnötige Ängste und bildeten die Grundlage für die gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussion.
Das Faktum wird in einer Zeitungsmeldung vom 24. Mai 1983 (Stuttgarter Zeitung) deutlich. Hier finden sich unter der Überschrift „Eine geheimnisvolle Krankheit – in San Francisco breitet sich die Angst vor AIDS aus“ folgende Sätze: „In der kalifornischen Stadt San Francisco, von deren rund 679.000 Bewohnern etwa ein Viertel Homosexuelle sein sollen, breitet sich die Angst vor der auf einem Immundefekt beruhenden Infektionskrankheit AIDS aus . . . Die geheimnisvolle Krankheit, deren Opfer vor allem Homosexuelle sind, stellt die Ärzte noch immer vor ein Rätsel . . . Von den über 1.400 AIDS-Fällen, die in den letzten knapp drei Jahren landesweit auftraten, verliefen etwa 40 Prozent tödlich . . .“ Auch der Spiegel thematisierte in seiner 23. Ausgabe im Jahr 1983 die neue Infektion: „AIDS: Eine Epidemie, die erst beginnt“ und „Wie die Pest – In den USA grassiert eine ,–Epidemie der Furcht‘ vor der Homosexuellenkrankheit AIDS; ihre Opfer werden behandelt wie Aussätzige.“
Eine Erinnerung aus der Zeit als Assistent auf der Infektionsstation
Prof. Dr. med. Santiago Ewig, heute ein renommierter Infektiologe und Leiter eine der größten pneumologischen Kliniken im Ruhrgebiet, beschreibt eindrucksvoll seine Erfahrung mit den ersten AIDS-Patienten [20]: „Die Infektionsstation war zweigeteilt; im vorderen Teil lagen Patienten mit Tuberkulose, im hinteren die mit HIV-Infektion beziehungsweise AIDS. Die Plage vergangener Jahrhunderte lag Tür an Tür mit der neuesten Plage der Gegenwart. Eine antivirale Therapie war noch nicht verfügbar; die Patienten bildeten das ganze Lehrbuch von Infektionen unter schwerer Immunsuppression vor unseren Augen aus. Eines Abends, ich hatte Dienst auf Station, kam ich in die Stationsküche und fand unsere Stationsschwester und einige unserer HIV-Patienten bei der Vorbereitung eines Abendessens. Jeder machte sich auf seine Weise nützlich. So der Patient, der sich gerade von einer Pneumonie erholte, aber noch kurzatmig war, so auch der arme Patient mit disseminiertem Kaposi-Sarkom, einer Infektion mit tumoröser Manifestation, die sein Gesicht monströs ödematös verstellte, so einige andere mehr, Gezeichnete, Drogenabhängige, Stricher. Ich wurde eingeladen, am Abendessen teilzunehmen. Ich gebe zu, ich spürte eine spontane innere Hemmung, mich mit dieser Gruppe gemein zu machen. Ich überwand diese aber rasch und kam dazu. Das Abendessen wurde zu einem Markstein in meiner medizinischen Ausbildung. Der Abstand von Arzt und Schwester, Arzt und Patienten war gebrochen, das Teilen gemeinsamer Schüsseln mit Schwerstkranken und Gezeichneten erzeugte eine Stimmung des Gleichklangs, die eine Leichtigkeit und Heiterkeit zur Folge hatte, wie ich sie im Krankenhaus noch nie vorher erlebt hatte.“
Hans Halter, ein deutscher Medizinjournalist, Dermatologe und ehemaliger Spiegel-Autor, hat im Jahr 1982 als erster deutschsprachiger Journalist über die Immunschwächekrankheit AIDS hierzulande berichtet und ebenfalls 1984 das erste Buch mit dem provokanten Titel „Todesseuche AIDS“ herausgegeben. Im Vorwort schrieb er: „Als dunkler Schatten zieht sie herauf, eine heimtückische und grausame Krankheit: AIDS. Der erworbene Mangel an Abwehrkraft, vor einigen Jahren noch gänzlich unbekannt, entwickelt sich zu einer weltweiten Seuche. Tausende sind schon an ihr gestorben, Millionen angesteckt. Angst geht um, Angst vor einer Krankheit, die schlimmer ist als Krebs und Herzinfarkt, Pocken, Pest und Cholera. Wer daran erkrankt, der muss nicht sterben. AIDS jedoch lässt niemand eine Chance: Bei wem die Krankheit ausbricht, der ist des Todes. AIDS bedroht (in unterschiedlichem Maße) jeden einzelnen und die Gesellschaft insgesamt.“ Das Buch hat eine düstere Zukunft heraufbeschworen; obwohl es in erster Linie über die medizinischen, aber auch die gesellschaftlichen und persönlichen Facetten der Krankheit in der Bevölkerung informieren wollte [26]. Jeder, der es las, bekam es mit der Angst zu tun.
Wolfgang Schad, ein Pädagoge der Rudolf-Steiner-Schule, hat die AIDS-Seuche seinerzeit sehr prägnant beschrieben [4]: „Die Eigenart der AIDS-Massenerkrankung lässt sich dadurch kennzeichnen, dass nicht wie bei der ,Hunnenfurcht‘ (Anm.: worunter eine archaisch, anmutende unterbewusste Bedrohung durch das alttestamentarische Bild der Menschheitsplagen, das heißt eine Weltuntergangsstimmung verstanden wird) die leibliche Grundlage des emotionalen Menschen untergraben wird, sondern die leibliche Grundlage der geistigen Individualität des einzelnen selbst.“ Hierzu muss aber auch angemerkt werden, dass hochrespektable Infektiologen weltweit AIDS seinerzeit mit der Pest im Mittelalter durchaus verglichen. AIDS bringt die sexuelle Verdorbenheit der ganzen Gesellschaft zum Vorschein, so schlussfolgerte sogar ein renommierter Hamburger Hygieniker die Situation. Im Unterschied zu den damaligen epidemischen Infektionskrankheiten, wie der Pest, Fleckfieber, Cholera, Influenza, Tuberkulose, um nur einige aufzuführen, erwirbt beziehungsweise infiziert man sich aber an AIDS nicht so einfach wie die aufgeführten – als „gemeingefährlich“ bezeichneten – Infektionskrankheiten! „AIDS bekommt man nicht, AIDS holt man sich“! AIDS ist im medizinischen Sinn eine Geschlechtskrankheit, obwohl die Übertragung auch durch Nadelstichverletzung oder durch Blut oder Gerinnungskonzentrate möglich gewesen ist; was aber heute eine absolute Seltenheit darstellt [5, 8, 9–19, 27].
„So sind auch die Seuchen natürliche oder künstliche, je nachdem ob die Veränderung der Lebensbedingungen von selbst, durch Naturereignisse oder künstlich durch die Lebensweise eintritt. Die künstlichen Seuchen sind Attribute der Gesellschaft . . .“
Rudolf Ludwig Carl Virchow
Paradigmenwandel in der Gesellschaft
Hier hat sich unsere Gesellschaft gegenwärtig zum Positiven hin gewandelt. Dank gilt besonders der Deutschen Aidshilfe und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) für ihre intensive Aufklärung in den letzten Jahrzehnten. Im Jahr 1987 wurde in Deutschland die BZgA vom Bundesministerium für Gesundheit mit der Konzeption und Durchführung der breitenwirksamen Präventionskampagne „Gib AIDS keine Chance“ beauftragt (Abbildung 1).
Beschreibung der ersten Fälle – AIDS-Krankheit und ihr Verlauf
Im Jahr 1981 wurde der New Yorker Hautarzt Friedman-Kien auf die merkwürdige Häufung einer sonst ganz außerordentlich seltenen Erkrankung aufmerksam. Innerhalb weniger Monate war er bei vier jungen Männern auf ein sogenanntes Kaposi-Sarkom (KS) gestoßen: Eine dunkle, braun-bläuliche und knotige Verfärbung der Haut mit geschwürigem Zerfall und Blutungsneigung (siehe Synopsis AIDS – online). Diese Erkrankung war bei ihrer großen Seltenheit fast nur von theoretischem Interesse gewesen. Dem kalifornischen Arzt Gottlieb fiel ebenfalls bei fünf jungen Männern eine sehr seltene Lungenentzündung auf, die sogenannte Pneumocystis carinii-Pneumonie* (PCP); obwohl sie nicht zu der für diese Pilzerkrankung typischen Patientengruppe gehörten. Ein zellulärer Immundefekt wurde als Ursache der Pneumonien vermutet. Es wurde die These aufgestellt, dass die „homosexuelle Lebensweise“ oder Sexualkontakte eine Rolle bei der Entstehung der Immunschwäche gespielt haben könnten. Es folgten weitere Berichte über homosexuelle Männer mit opportunistischen Infektionskrankheiten und Kaposi-Sarkom (KS). Die Immunschwäche wurde zunächst als GRID (gay-related-immunodeficiency disease) bezeichnet.
Die Ärzte meldeten ihre Beobachtungen dem US-amerikanischen Center for Disease Control (CDC) in Atlanta, der obersten Gesundheitsbehörde, die noch im gleichen Jahr eine Publikation darüber herausbrachte, wobei ähnliche offensichtlich zusammengehörende Krankheitsbilder nun unter dem Begriff AIDS (Acquired immunodeficiency syndrome) zusammengefasst wurden [9, 10]. Es handelte sich bei diesen 30 ersten Patienten um junge homo- oder bisexuelle Männer, die sich mit sogenannten opportunistischen Erregern infiziert hatten, worunter man normalerweise harmlose Umgebungskeime versteht, die nicht krankheitserregend sind, sondern erst unter bestimmten Bedingungen werden können. Solche opportunistischen Infektionen waren bis dahin vor allem bei Patienten im Endstadium von schweren Erkrankungen oder bei schweren Defekten des körpereigenen Abwehrsystems oder nach Behandlung mit immunsuppressiven Medikamenten (zum Beispiel nach Organtransplantationen) beobachtet worden. Auffallend aber war, dass bei den jungen Männern keine Vorerkrankung bestanden hatte und keine Ursache zu erkennen war, die das Auftreten der opportunistischen Infektionen oder des seltenen Hauttumors (KS) hätte erklären können. Außergewöhnlich war außerdem die regionale Häufung der Erkrankten in New York und San Francisco.
Die weiteren Beobachtungen zeigten, dass von den ersten 150 an diesem neuen Syndrom AIDS erkrankten Menschen 149 männlichen Geschlechts waren, 90 Prozent von ihnen homo- oder bisexuell waren und fast alle übrigen von intravenös verabfolgten Drogen abhängig waren. Die Befragung der ersten Erkrankten ergab, dass die überwiegende Mehrzahl von ihnen in den letzten Jahren vor der Erkrankung mit einer großen Zahl von unterschiedlichen Partnern Sexualkontakte gehabt hatte (der Durchschnitt lag bei 1.160 Partnern) und dass sie darüber hinaus bei diesen Kontakten häufig bestimmte Drogen konsumiert hatten. Hier ist anzumerken: Promiskuität ist der Motor für jegliche Geschlechtskrankheiten beziehungsweise STD (sexually transmitted diseases) oder STI (sexually transmitted infections) wie Lues, Gonorrhö, Ulcus molle, Chlamydien, Analwarzen, Hepatitiden A, B, C et cetera.
Dass es sich bei AIDS um eine Infektionskrankheit handeln könnte, deren damals noch unbekannter Erreger nicht nur durch homosexuellen Geschlechtsverkehr, sondern auch heterosexuell sowie durch Blut und Muttermilch übertragbar ist, wurde deutlich, als auch Frauen und Kinder erkrankten. Die weitere Entwicklung von AIDS zeigte aber eine schnelle Zunahme von Infektion und Erkrankung in nur wenigen Risikogruppen, hauptsächlich bei Männern mit homosexuellem Verhalten und häufigem Partnerwechsel (Promiskuität), bei intravenös Drogenabhängigen, die untereinander gemeinsame Injektionsnadeln benutzten, Sexualpartnern von Erkrankten und Infizierten sowie Empfängern von Bluttransfusionen und Kindern von erkrankten Müttern, sodass der Schluss nahelag, dass der Krankheitserreger durch Sexual- und Blutkontakt übertragen wird.
Die Sequenzierung des HI-Virus gelang schließlich mehreren Forschergruppen annähernd gleichzeitig und ist mit den Namen Robert Gallo, Francoise Barre Sinoussi und Luc Montagnier verbunden. In diesem Kontext muss aber erwähnt werden, dass retrospektiv der erste AIDS-Patient nicht das erste amerikanische Opfer von AIDS war. Kryokonservierte Gewebe- und Serumproben eines 15-jährigen schwarzen Menschen, der 1968 an einem aggressiven KS verstorben war, wurden nachträglich auf Antikörper und HIV-Antigene getestet und reagierten positiv. Sogar Berichte aus Ende der 1950er-Jahre legen den Verdacht nahe, dass das Virus schon damals grassierte [5, 17, 18, 19]. Da der Patient keine Auslandsreisen unternommen hatte, muss es bereits schon Anfang der 60er-Jahre HIV-infizierte Menschen in den USA gegeben haben.
Soweit es möglich war, in der Vergangenheit zu forschen, zeigte sich wahrscheinlich der allererste Fall der Krankheit, die jetzt AIDS genannt wird, bei einer dänischen Chirurgin, die 47 Jahre alt war, als sie 1977 starb, und die in einem primitiven, ländlichen Hospital in Nord-Zaire zwischen 1972 und 1975 gearbeitet hatte. Nach kurzen Besuchen in Ghana, Nigeria, Senegal und der Elfenbeinküste arbeitete sie von 1975 bis 1977 in Kinshasa, Zaire. Während der meisten Zeit ihres Aufenthaltes in Afrika hatte sie wiederholte, in zunehmendem Maße gegen Behandlung resistente Episoden von Diarrhö, Müdigkeit, Verfall und später generalisierte „Lymphadenopathie“, gefolgt von bilateraler Pneumonie, die, wie es sich später zeigte, durch Pneumocystis carinii verursacht war, außerdem Lymphozytopenie und eine geringe Anzahl von T4-Helferzellen, Candida albicans, Staph. aureus, Escherichia coli, Staph. albus und Sepsis. Sie starb an respiratorischer Insuffizienz etwa ein Jahr nach Beginn der Krankheit. Die Nekropsie zeigte bilaterale, pulmonare, alveolare Proteinosis mit zahlreichen P. carinii. Sie ist weder in den USA oder auf Haiti gewesen noch war sie drogensüchtig, doch war sie in hohem Maße dem Blut und den Exkreten afrikanischer Patienten ausgesetzt, wo sie sich wahrscheinlich mit dem Virus infiziert haben musste [18, 19].
Im Deutschen Ärzteblatt berichteten die damaligen Professoren Johanna L’age-Stehr und Meinrad A. Koch, ehemaliges Bundesgesundheitsamt in Berlin – heutiges Robert Koch-Institut –, in einem Editorial mit der Überschrift: „Unbekannter Krankheitserreger als Ursache von tödlich verlaufenden erworbenen Immundefekten“, das Bundesgesundheitsamt bemühe sich, die in der Bundesrepublik Deutschland auftretenden Fälle von AIDS zu erfassen, um zusammen mit den CDC eine epidemiologische Klärung zu erreichen. Ferner wurde auf essenzielle infektionspräventive Maßnahmen für das Gesundheitswesen hingewiesen [25].
* Anmerkung: Erst molekulargenetische Untersuchungen belegten, dass die bei Menschen vorkommenden Erreger eine andere Spezies als die bei Ratten vorkommenden Pneumocystis carinii sind, was zur Bezeichnung als Pneumocystis jirovecii führte (nach dem tschechischen Parasitologen Otto Jirovec, der Pneumocystis erstmalig beim Menschen beschrieb [Stringer JR, Beard CB, Miller RF, Wakefield AE (2002): A new name (Pneumocystis jiroveci) for Pneumocystis from humans. Emerging Infect Dis 8 (9): 891–96, DOI: https://doi.org/10.3201/eid0809.020096]).
Entnommen aus MTA Dialog 10/2020
Artikel teilen