COVID-19: Mittelweg zwischen Infektionsrisiko und Rezession berechnen?

Computermodell zu Corona-Maßnahmen
lz
Corona-Gegenmaßnahmen
Simulation der Corona-Gegenmaßnahmen Kzenon, stock.adobe.com
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Bielefelder Ökonomen entwickeln ein Computermodell zu Corona-Maßnahmen, mit dem berechnet werden soll, wie sich die Einschränkungen durch die Coronakrise auf die Wirtschaft auswirken und welche Maßnahmen geeignet sind, um die Zahl der Infizierten und Toten durch SARS-CoV-2 möglichst niedrig zu halten.

Ein neuer Ansatz der Wissenschaftler/-innen ist es zu ermitteln, wie beide Dynamiken miteinander zusammenhängen. Dieser Ansatz wurde an der Universität Bielefeld erforscht und nun in einer Studie veröffentlicht. Dazu haben die Forscher in einem Computermodell mit hoher Voraussagekraft simuliert, wie sich das Virus verbreitet und wie sich zugleich unterschiedliche Eindämmungsmaßnahmen auswirken – und zwar sowohl auf das Bruttoinlandsprodukt und die Arbeitslosenzahlen als auch auf die Zahl der Infizierten und der an COVID-19 Verstorbenen.

Modell für die Corona-Krise ausgearbeitet

Professor Dr. Herbert Dawid von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften forscht seit Jahrzehnten an Computer-gestützten Modellen, mit denen er die dynamischen Auswirkungen untersucht, die ganz unterschiedliche Veränderungen und politische Maßnahmen auf die Wirtschaft haben – da war es für ihn nur logisch, auch ein Modell für die Corona-Krise auszuarbeiten. Damit füllt er zugleich eine Leerstelle: Es gibt viele Modelle, mit denen man die Auswirkungen unterschiedlicher Eindämmungsmaßnahmen auf die Wirtschaft simulieren kann – und Untersuchungen, die sich mit der Ausbreitung von SARS-CoV-2 befassen. „Es gibt aber kaum Studien, die beide Aspekte miteinander verbinden“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Dabei sei es wichtig, dies kombiniert zu betrachten: „Es ist nicht nur so, dass viele Eindämmungsmaßnahmen wirtschaftliche Folgen haben“, sagt Dawid. „Umgekehrt können auch wirtschaftliche Aktivitäten dazu beitragen, dass sich das Virus weiterverbreitet.“

Nutzung etablierter epidemiologischer Modelle

Für die Modellierung der Ausbreitung des Virus stützten sich die Forscher/-innen auf etablierte epidemiologische Modelle. Auf Seiten der Wirtschaft seien im Modell ein öffentlicher und drei private Sektoren sowie Haushalte mit einer unterschiedlichen Altersstruktur angelegt. Berücksichtigt werde zudem individuelles Verhalten. Als Verbreitungskanäle des Virus seien Arbeit, Einkaufen und private Treffen vorgesehen.

In ihrem Modell haben die Wissenschaftler/-innen zunächst Maßnahmen simuliert, um die Verbreitung des Virus unter Kontrolle zu bekommen. Dabei stehen unterschiedliche Stellschrauben zur Verfügung, darunter auch solche, die zumindest im Modell keine Auswirkungen auf die Wirtschaftsaktivität haben. Dazu zählt zum Beispiel, dass mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. Ziel der Simulation sei dabei immer, dass die Zahl der Infizierten nicht über einen Schwellwert steigt, bei dem die vorhandene Zahl an Intensivbetten nicht mehr ausreicht.

Harter Lockdown notwendig?

Das ließ sich in der Studie alleine mit solchen „weichen“ Maßnahmen allerdings kaum erreichen, so die Wissenschaftler. Als notwendig zeigte sich hingegen ein recht harter Lockdown, der – ähnlich wie es in Deutschland geschehen ist – zum Beispiel mit der Schließung von Geschäften einhergehe. Dies habe natürlich entsprechende Auswirkungen auf die Wirtschaft. „Bezüglich der Intensität des Lockdowns ist es so, dass die Politik einen Kompromiss eingehen muss zwischen einem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität und der Sterblichkeit infolge des Virus“, sagt Dawid. Als günstig unter diesen Bedingungen habe sich im Modell jedenfalls ein frühzeitiger Lockdown über mehrere Wochen erwiesen, durch den die Infektionszahlen stark sinken. „Werden die Maßnahmen hingegen nur kurz durchgeführt, besteht immer die Gefahr, dass es zu einer zweiten Infektionswelle kommt und erneut alles geschlossen wird“, betont Dawid. Das würde nicht nur die Anzahl der Menschen erhöhen, die durch das Virus sterben, sondern auch die wirtschaftlichen Verluste, die insgesamt entstehen.

Auch die Öffnungsphase simuliert

Das Modell simuliert außerdem die Öffnungsphase nach einem Lockdown. Dabei stellen sich der Politik Fragen: Wann soll sie einen Lockdown beenden? Welche Beschränkungen sollten sofort aufgehoben werden, welche Verbote zunächst weiter gelten? Welche individuellen Maßnahmen sind zudem sinnvoll, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen? Die Autoren der Studie empfehlen, nach einem langen Lockdown wie in Deutschland schnell umfassende Lockerungen zuzulassen – sofern die Zahl der Infizierten pro Woche nicht über 5 pro 100.000 steige. „Dies gilt aber nur, wenn individuelle Maßnahmen die Lockerungen flankieren“, erläutert Dawid. Falls es nicht möglich sei, Maßnahmen wie zum Beispiel Abstand halten oder das Tragen von Masken weiterhin im gleichen Ausmaß wie während des Lockdowns aufrecht zu erhalten, rät Dawid eher zu vorsichtigen Lockerungen. „Wir gehen davon aus, dass alles – von Geschäften bis zu Sportvereinen – schnell wieder öffnen sollte, wenn die ergänzenden Maßnahmen die Ansteckungsgefahr bei einem Treffen mit Infizierten im Schnitt um rund 60 Prozent reduzieren“, sagt Dawid. „Andernfalls ist eine langsame Öffnung günstiger.“ Denn sonst bestehe auch hier die Gefahr, dass das Virus wiederkehrt und ein zweiter Lockdown notwendig werde – nicht nur mit mehr Todesfällen, sondern auch mit entsprechenden wirtschaftlichen Folgen.

Wirtschaftliche Hilfen sind wichtig

Als wichtig haben sich zudem wirtschaftliche Hilfen erwiesen. „Unabhängig von der Gestaltung der Einschränkungen haben unsere Simulationen gezeigt, dass ergänzende wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen sinnvoll sind“, betont Dawid. „Sie verringern den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts erheblich, erhöhen aber auf lange Sicht nicht die Staatsverschuldung.“ Zu den möglichen Maßnahmen gehöre es zum Beispiel, Kurzarbeit zu ermöglichen, Arbeitslosengeld zu zahlen und Unternehmen zu unterstützen, die durch die Eindämmungsmaßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.

Die Wissenschaftler/-innen haben das Modell mit den Daten zur bisherigen Entwicklung in Deutschland abgeglichen. Das Modell war in der Lage, die deutschen Zahlen für die 63 Tage zwischen dem 9. März und dem 10. Mai 2020 in Bezug auf die wirtschaftlichen und virologischen Daten zu reproduzieren, so die Forscher. Dieser Vergleich mit den deutschen Zahlen zeige, dass das Modell valide sei. „Das Modell erscheint uns sehr geeignet, um die Ausbreitung eines infektiösen und potenziell tödlichen Virus mit seinen Folgen auf die Wirtschaft nachzuvollziehen und vorauszusagen“, bekräftigt Dawid.

Auf andere Länder übertragbar

Das Modell sei darüber hinaus grundsätzlich übertragbar auf andere Länder. „Man muss dann natürlich einige Parameter ändern, die man schnell einarbeiten könnte“, stellt Dawid klar. Dazu zähle zum Beispiel die Altersstruktur der Bevölkerung, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und insbesondere auch die Zahl der Intensivbetten. Sollte es einmal eine Pandemie mit einem anderen Virus geben, könne das Modell ebenfalls hilfreich sein, um die Folgen politischer Maßnahmen vorauszuberechnen. „In dem Fall müssten wir die Infektionswahrscheinlichkeiten und altersabhängigen Todesraten entsprechend modifizieren“, sagt Dawid.

Literatur:

Alessandro Basurto, Herbert Dawid, Philipp Harting, Jasper Hepp, Dirk Kohlweyer: Economic and epidemic implications of virus containment policies: insights from agent-based simulations. Working Papers in Economics and Management; 05-2020.


Quelle: idw/Universität Bielefeld

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