In ihrer Einleitung wird das aktuelle weltweite und besonders das nationale Geschehen der Pandemie durch das SARS-CoV-2-Virus ausgiebig erörtert. Die Herausgeber haben eine Vielzahl von wissenschaftlichen und auch Medienberichten diverser Tagesjournale, TV-Sendungen – besonders aus den USA und Europa – bis Mai 2020 ausgewertet.
Das Herausgeberziel ist es (nach eigenen Angaben), mit ihrem populärwissenschaftlichen Werk vorurteilsfrei, wissenschaftlich fundierte Information in die Bevölkerung zu transportieren. Soweit zumindest der Anspruch. Doch letztlich finden die Aussagen auch im Bereich der Verschwörungstheoretiker und Systemkritiker erheblichen Anklang. Wohlwollend könnte man sagen, dass viele Informationen zu Zeiten des Schreibens des Buches noch nicht vorlagen. Doch oft verwenden die Autoren nur die Studien, die in die eigene Argumentation passen. Selbst Stanford-Professor John P. A. Ioannidis, den Bhakdi und Reiß gerne zitieren und der quasi als „Kronzeuge“ für viele Aussagen dient, hatte in Interviews auch betont, dass die Politik mit den sofortigen drakonischen Abwehrmaßnahmen im Angesicht der akuten und unklaren Lage richtig gehandelt habe. Zitat aus einem Interview bei The Healthcare Blog: Saurabh Jha: „Let me ask you, frankly. Did you support the lockdown?“ Ioannidis: „Let me answer, frankly. Yes. But only as a temporary measure.“ Der Stanford-Professor kam allerdings selbst in die Kritik. Er wurde für seine Studie zu „COVID-19 Antibody Seroprevalence in Santa Clara County“ teils heftig kritisiert. Damit versuchte er zu zeigen, dass die Sterberate niedriger ist als angenommen. Diese Studie von Ioannidis et al., die COVID-19 als weiter verbreitet darstellt als bis dahin angenommen, ist, um es vorsichtig auszudrücken, durchaus nicht unumstritten, doch dies wird natürlich im Buch nicht erwähnt.
Auch die möglichen Langzeitfolgen einer COVID-19-Erkrankung, wie z.B. die neurologischen Defizite, über die in China schon früh berichtet wurde, finden langsam auch den Weg nach Europa/USA und werden erst allmählich stärker beachtet. Eine Verharmlosung der Krankheit scheint deshalb kaum angebracht, bevor nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen, alles andere wäre grob fahrlässig. Worauf ebenfalls nicht eingegangen wird, ist, dass die Menschen schon vor dem offiziellen Lockdown angefangen haben, vorsichtiger zu werden (eben gerade wegen der Horrorbilder aus Italien oder China, was sich an den Mobilitätsdaten ablesen ließ) und sich dies in sinkenden Infektionsraten niedergeschlagen hatte, bevor die Regierung überhaupt entschieden hatte.
Anderes Beispiel, das für die Relativierung der Gefährlichkeit verwendet wird, ist eine erwähnte französische Studie (SARS-CoV-2: fear versus data), die aufzeigen will, dass eine Infektion mit den gewöhnlichen Erkältungs-Coronaviren eine Mortalität von 0,8% in Frankreich habe. Problem hierbei ist, dass eine Kausalität einfach angenommen wird. Weitere Untersuchungen fehlen. Dann wird geschlussfolgert, dass die Mortalität mit SARS-CoV-2 vergleichbar sei. Die Daten stammen jedoch bis zum 2.3.2020, also noch vom Anfang der Pandemie. Eine solche Studie für seine Argumentation zu verwenden, ist mehr als fragwürdig. So heißt es selbst in der Studie: „Of course, the major flaw in this study is that the percentage of deaths attributable to the virus is not determined, but this is the case for all studies reporting respiratory virus infections, including SARS-CoV-2.“
Noch ein Beispiel (dann soll es auch genügen): Um die PCR-Tests zum Nachweis von SARS-CoV-2 in Misskredit zu bringen, erwähnen Reiß und Bhakdi die Aussage des tansanischen Staatschefs, der erwähnt hatte, dass in Tansania selbst Ziegen und Papayas Corona-positiv getestet worden sein sollen. Unerwähnt bleibt freilich, dass ein Test, der eigentlich für die Verwendung beim Menschen entwickelt und evaluiert wurde, wenn er für Ziegen, Papayas und Motoröl verwendet wird, bei positivem oder negativem Ergebnis in jedem Fall zweifelhafte Ergebnisse liefert. Auch ist nicht klar, ob das Virus z.B. auf der Frucht und im Fell der Ziege zu finden war und welcher konkrete Test überhaupt verwendet wurde.
Meinungsfreiheit hin oder her: Wir können dieses Buch nicht guten Gewissens empfehlen, auch wenn es aktuell in der Spiegel-Bestsellerliste erscheint. Kritische Töne sind durchaus nötig und die Auswirkungen von Lockdowns auf Wirtschaft und Gesellschaft müssen immer im Auge behalten werden, aber bei Verwendung von fragwürdigen Studien oder Aussagen bekommt das Ganze einen falschen Zungenschlag. Die an einigen Stellen deutlich zu spürende Polemik gegenüber anderen Wissenschaftlern ist vollkommen unangebracht, passt aber in die Argumentationslinie. Es gibt auch Studien, die in Szenarien aufzeigen, dass eine Verzögerung von nur fünf Tagen bei den Lockdown-Maßnahmen zu einem exponentiellen Wachstum der Coronafälle in Deutschland geführt hätte (https://www.mta-dialog.de/artikel/covid-19-diskussion-der-richtigen-massnahmen.html). Eine Auseinandersetzung mit solchen Studien fehlt.
Fakt ist letztlich, dass derzeit nicht nur das Virus, sondern auch die durch das Virus ausgelöste Krankheit noch nicht vollständig verstanden wird. Viele offene Fragen werden sich erst in den nächsten Monaten, vielleicht auch erst in den nächsten Jahren klären. Aussagen der Forschung sind notwendigerweise immer vorläufig – das ist das Charakteristikum der Wissenschaften. Wenn eine Gemeinschaft mit einer Epidemie fertig werden muss, sind die Einstellung und das Verhalten der Bevölkerung essenziell: Ohne ein Grundvertrauen in die Werte einer Gesellschaft, ein Vertrauen in das Funktionieren des Staates, in die öffentliche Ordnung und das Verhalten der verantwortlichen Politiker, Verwalter und deren Berater, ein Vertrauen auch in das angemessene Verhalten der Mitmenschen, können größere und längere Seuchenzeiten nicht oder nur mit Gewalt bekämpft werden. Maßnahmen gegen das Virus erfolgen aktuell auf individueller Ebene als auch auf der Ebene der öffentlichen Gesundheitswesen in eine Unwissenheit hinein auf Basis lückenhafter und mosaikartig zusammenzusetzender Einzelbefunde; dieses Faktum war bei allen kontagiösen Krankheiten zu beobachten.
Leider findet man in dem Buch auch keinen Hinweis, wie viele Ärzte und Mitarbeiter aus anderen Gesundheitsberufen während ihrer Tätigkeit schicksalhaft an COVID-19 gestorben sind. Das Virus befällt nicht nur ältere Patienten mit Vorerkrankungen – wie in dem Buch beschrieben. Zu den relevanten Vorerkrankungen gehören auch solche, mit denen man durchaus lange leben kann, wie Diabetes mellitus, Hypertonie etc. In China sind bislang (offiziell) 23 Beschäftigte im Gesundheitswesen an den Folgen des neuartigen Coronavirus gestorben. Auf dem Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ hat es einen Coronavirus-Ausbruch gegeben: 1.081 der fast 2.000 Besatzungsmitglieder wurden positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Mehr als 500 zeigten Symptome: 24 von ihnen mussten im Krankenhaus behandelt werden, 2 lagen auf der Intensivstation. Auf dem US-amerikanischen Flugzeugträger „USS Theodore Roosevelt“ starb ein Besatzungsmitglied an der virusbedingten Lungenkrankheit COVID-19; hier bestätigt sich, dass auch junge, gesunde Menschen versterben können. Die 5.000 Besatzungsmitglieder seien jünger und gesünder als die durchschnittliche Bevölkerung. Diese aktuellen Fallbeschreibungen bestätigen aber doch alle, wie kontagiös und virulent das SARS-CoV-2 auch für junge und gesunde Menschen sein kann?
Wie wichtig präventivmedizinische Maßnahmen in der Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Infektionskrankheiten sind, zeigte sich in England: 181 Ärzte und Pflegekräfte sind bis dato am Virus gestorben. Der Anteil der nosokomialen, also sekundär im Krankenhaus erworbenen Infektionen betrug im Mittel 44 %. Im Vergleich dazu lag diese Rate bei den Studien mit SARS-1 bei 36 % (Mittelwert aus 25 Studien) und bei MERS bei 56 % (Mittelwert aus 11 Studien). Die Reihenfolge des Ansteckungsrisikos ist demnach somit MERS, SARS-CoV-2 und SARS-1. Expositions- und Dispositionsprophylaxe einschließlich Desinfektion, Sterilisation und andere hygienische Vorgehensweisen sind in der medizinischen Versorgung von SARS-CoV-2-Patienten überlebenswichtig. In summa: Das Buch thematisiert die aktuelle Pandemie und moniert die Risiken der Entscheidungen der zuständigen Behörden und Experten, die angeblich die Pandemie völlig falsch eingeschätzt und überschätzt hätten. Der mündige und interessierte Bürger soll sich selbst sein Bild von dem geschriebenen Werk machen. Warten wir gespannt die abschließende Bewertung der Pandemie ab und sehen dann, ob die getroffenen Entscheidungen, die für viele Menschen als nicht mit der Verfassung einer freien Demokratie vereinbar erschienen, als unverhältnismäßig in die Geschichte eingehen oder letztendlich doch gerechtfertigt waren.
Hardy-Thorsten Panknin, Ludwig Zahn
Hrsgb. Sucharit Bhakdi und Karina Reiss
Corona Fehlalarm Taschenbuch: 160 Seiten, Goldegg Verlag; Taschenbuchausgabe (21. Juni 2020), ISBN: 978-3990601914, Preis: 15 Euro, Taschenbuch E-Book: KINDLE 9,99 Euro.
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