Die derzeit sinkenden Infektionszahlen lassen auf ein baldiges Ende der dritten COVID-19-Welle hoffen. Fachärzte der Neurologie und Psychiatrie setzen sich jedoch bereits mit einer „vierten Welle“ auseinander. Die Tatsache, dass viele Patienten nach überstandener COVID-19-Erkrankung mit neurologischen und psychischen Folgen zu kämpfen haben, werde das Gesundheitssystem vor weitere Herausforderungen stellen. Für eine angemessene Versorgung müssten geeignete Therapiekonzepte entworfen und zeitnah implementiert werden.
Viele Menschen, die wegen COVID-19 im Krankenhaus oder sogar auf der Intensivstation behandelt wurden, erholen sich nur langsam. Mitunter leiden sie noch über Wochen und Monate unter Erschöpfung, Atemnot oder einer verminderten körperlichen Belastbarkeit. Bei fast jedem zehnten Krankenhauspatienten und mehr als zwei Dritteln der Intensivpatienten diagnostizierten Mediziner „Enzephalopathien“, eine zumindest zeitweilige Beeinträchtigung der Hirnfunktion mit akuten Verwirrtheitszuständen, anhaltend verminderter Aufmerksamkeit und verschlechtertem Reaktionsvermögen.
Schäden im Gehirn durch starke Entzündungsreaktion
Der sehr weitgefasste Begriff der Enzephalopathie ließe jedoch kaum Rückschlüsse auf die eigentlichen Ursachen des Krankheitsbildes zu, das als „Post-COVID“ bezeichnet wird. Das stellen die Autoren, Prof. Dr. med. Peter Berlit, Prof, Dr. med. Lutz Frölich und Prof. Dr. med. Hans Förstl, fest. Die direkte Neuroinvasion, also die Infektion des zentralen Nervensystems (ZNS) durch das Virus selbst, spiele eine nachgeordnete Rolle, so die Experten. Entscheidend seien vor allem die indirekten Effekte der Infektion über das Immunsystem. So könne die starke Entzündungsreaktion durch das Virus Schäden im Gehirn hinterlassen. Darauf deuten Untersuchungen der Hirnflüssigkeit hin. Auch Schäden in den Blutgefäßen und die Thrombosen, zu denen es bei vielen Patienten gekommen ist, könnten das Gehirn auf Dauer schwächen. Bei schweren Verläufen kam es zu Schlaganfällen. Bei milderen Verläufen der Erkrankung könnten kleinere Gefäßverletzungen, die zunächst keine gravierenden Symptome verursachen, die Hirnleistung anhaltend reduzieren.
Für die dadurch entstandenen und fortbestehenden (residual) kognitiven Defizite der Betroffenen gebe es derzeit noch keine bewährte Behandlung. „Medikamente mit bewiesener Wirksamkeit für ein kognitives COVID-Residualsyndrom stehen noch nicht zu Verfügung“, führen die Experten aus. Und inwieweit Arzneimittel, die bei Morbus Alzheimer eingesetzt werden, bei „Post-COVID“ wirken, lasse sich nicht mit Sicherheit vorhersagen. Zudem sei zu beobachten, dass einige Menschen die Folgen der Erkrankung auch psychisch nur schwer bewältigen und therapiebedürftige posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen entwickeln.
Enge Zusammenarbeit der Versorgungsbereiche
Die Beurteilung, Begutachtung und Weichenstellung zur Rehabilitation und Reintegration von „Post-COVID”-Patienten werde nach Ansicht der Autoren deshalb die nächste große Aufgabe in und nach der Pandemie sein. Dafür sei eine enge Zusammenarbeit der hausärztlichen, psychiatrischen und neurologischen, sozialpädagogischen und arbeitsmedizinischen Versorgungsbereiche notwendig. Gleichzeitig müssten weitere epidemiologische Daten zu kognitiven Nachwirkungen erhoben werden, um den Behandlungsbedarf besser einschätzen zu können. Zudem regen die Experten abschließend an, die in der Pandemie etablierten Online-Therapieangebote weiter auszubauen.
P. Berlit, L. Frölich, H. Förstl:
Die „vierte Welle?“ COVID-19 und konsekutive kognitive Störungen
DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2021; 146 (10); S. 671–676
Quelle: fzm, Mai 2021
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