Dazu muss aber angemerkt werden: Die aktuell geführte Diskussion rund um das Thema „COVID-19-Impfung“ ermöglicht Raum für Gerüchte, Falschinformationen und sogar Verschwörungstheorien: Plötzlich scheint die Evidenz der wissenschaftlichen Erkenntnisse fraglich.
Investigativer Journalismus und die Folgen
Zu viele Theorien, zu viele Experten, zu viele Berichte, Memes und Fake News konsumieren wir seit über einem Jahr. Ärzte verschiedener Fachrichtungen, besonders Virologen, Wissenschaftler aus anderen Fachbereichen und Politiker sind aktuell in Talkshows der diversen Sendeanstalten gern gesehene Gäste – besonders der deduktive Epidemiologe, Prof. Dr. med. Karl Lauterbach. Ihre unterschiedlichen wissenschaftlichen Standpunkte sind in der Wissenschaft bzw. Virologie sinnvoll und ein notwendiges Vorgehen für den Fortschritt; für die Allgemeinbevölkerung sind sie eher irritierend und kontraproduktiv in der Wirkung. Die Verhinderung und Eindämmung von Epi- und Pandemien erfordern aber ein Mitwirken der Bevölkerung. Wer das gesundheitsrelevante Verhalten der Bevölkerung beeinflussen möchte, muss mit ihr in der richtigen Sprache kommunizieren und eine vorsichtige aber wahrheitsgemäße und risikominimierende Informationspolitik betreiben. Das Bewusstsein der Öffentlichkeit wird wesentlich durch die Massenmedien geprägt, wobei vielfach die nur oberflächlich recherchierte Sensationsmeldung über die seriösen Berichte dominiert. Sachliche Information ohne Panikmache ist aber dringend geboten.
So wird seit November berichtet, dass es in der „zweiten Welle“ - anders als bei der ersten Pandemiewelle ist: Viele jüngere Personen sind jetzt betroffen. Diese Patienten sind deutlich unter 50 Jahren und teilweise ohne Vorerkrankungen. Belgische Ärzte berichteten, dass sie schon nicht mehr die Entscheidung treffen konnten, ob sie 60- oder 70-Jährige beatmen, sondern sich aufgrund der vollständigen Überlastung einzelner Kliniken schon entscheiden mussten, ob sie einem 30-Jährigen oder einem 50-Jährigen das Leben retten; sogenannte Triage (Deutsches Ärzteblatt 03.11.2020). Auswirkungen solcher Berichterstattungen bewirken eine allgemeine Verunsicherung in der extrem emotional angespannten Situation.
Aktuell liegen eine Vielzahl von publizierten Studien über die Wirksamkeit der unterschiedlichen Impfungen gegen SARS-CoV-2 vor - weitere befinden sich in Druck. Diese Daten müssen wahrheitsgemäß in die Öffentlichkeit transportiert werden. Die Impfbereitschaft in der gesamten Bevölkerung lässt sich nur dann optimieren, wenn auch wahrheitsgemäße und sachliche Informationen gemacht werden. Die Diskussionen um den AstraZeneca-Impfstoff haben das Impfvertrauen – besonders sich mit dieser Vakzine immunisieren zu lassen – schwer und unbegründbar belastet. Dazu ist jüngst eine schottische Datenauswertung – aktuelle Presseerklärung vom 22.02.2021 – publiziert worden, die erfreulicher Weise darauf hingewiesen hat, dass schon die erste der zwei Impfungen mit der AstraZeneca-Vakzine, das Risiko eines Klinikaufenthalts wegen COVID-19 um bis zu 94% reduzieren kann (Vasileiou E et al. Effectiveness of first dose of COVID-19 vaccines against hospital admissions in Scotland: national prospective cohort study of 5.4 million people. In press). Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) berichtete aktuell über 7.690 aus Deutschland gemeldeten Verdachtsfällen von Nebenwirkungen oder Impfkomplikationen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung mit den mRNA-Impfstoffen Comirnaty (BioNTech Manufacturing GmbH), COVID-19 Vaccine Moderna (MODERNA BIOTECH SPAIN, S.L.) und COVID-19 Vaccine AstraZeneca (AstraZeneca AB) zum Schutz vor COVID-19 von Beginn der Impfkampagne am 27.12.2020 bis zum 12.02.2021. Bis zum 12.02.2021 wurden laut Angaben des Robert Koch-Instituts 3.967.246 Impfungen durchgeführt, davon 3.848.994 Impfungen mit Comirnaty, 86.967 Impfungen mit dem COVID-19-Impfstoff Moderna und 31.285 Impfungen mit dem COVID-19-Impfstoff AstraZeneca. 7.277 Fälle wurden zur Impfung mit Comirnaty gemeldet, 258 Fälle zu dem COVID-19-Impfstoff Moderna, 20 Fälle zu dem COVID-19-Impfstoff AstraZeneca und in 135 Fällen wurde der COVID-19-Impfstoff nicht spezifiziert. In 1.178 Fällen wurde über schwerwiegende Reaktionen berichtet, in 1.072 Fällen nach Impfung mit Comirnaty, in 41 Fällen nach Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff Moderna und in elf Fällen nach Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff AstraZeneca. In 63 Fällen mit schwerwiegenden Reaktionen wurde der Name des Impfstoffes nicht angegeben. Die Melderate betrug für die drei Impfstoffe zusammen 1,9 pro 1.000 Impfdosen, für Meldungen über schwerwiegende Reaktionen 0,3 pro 1.000 Impfdosen gesamt (Sicherheitsbericht: Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach Impfung zum Schutz vor COVID-19 des Paul-Ehrlich-Institut am 18.02.2021).
Für die Bürger bleibt die wichtige Aufgabe, bis auf weiteres, die Infektionsprophylaxe - auch wissenschaftlich als NPIs („nicht pharmakologische Interventionen“) bezeichnet - aktiv weiter zu leben: Abstand halten, Mundschutz tragen sowie Maßnahmen zur Basishygiene wie Händewaschen, Husten in die Ellenbeuge und regelmäßiges Lüften von Räumen umzusetzen.
Forschungsrevolution der Wissenschaft und ihr Einfluss
Die COVID-19-Pandemie hat eine weltweite Forschungsrevolution ausgelöst: Wissenschaftler untersuchen in rasanter Geschwindigkeit die Pathogenese des neuen SARS-CoV-2 zu verstehen und eine kausale Therapie zu finden. Innerhalb eines Jahres konnten mehrere Impfstoffe gegen COVID-19 entwickelt werden, die einen potenten Infektionsschutz bewirken. Gegenwärtig ist die immunologische und klinische Effektivität der unterschiedlichen Impfstoffe noch nicht abschließend geklärt. Die moderne Wissenschaft hat aber auch in der Pandemie erfreulich – trotz anfänglicher Schwierigkeiten - gezeigt, wie schnell sie sich an neu auftretende Bedrohungen - kontagiöse Infektionen - anpassen kann. In der Tat: Es gibt auch noch Unklarheiten über die Mechanismen in der SARS-CoV-2-Biologie (Mutanten etc.) und in der Pathogenese – besonders die Hyperaktivität der immunologischen Reaktion - zu verstehen. Wissenschaftler beeinflussen mit ihren vorläufigen Daten und Prognosen die Politik - unseren Entscheidungsträgern. Die Virologie hat dabei die domminierende Stellung in der Eradikation des SARS-CoV-2 als Primat an sich gezogen. Der Focus Online Korrespondent, Ulrich Reitz, hat am 09.02.2021 die Folgen sehr prägnant beschrieben: „Brinkmann und Lothar Wieler halten die neuen Virus-Mutanten für brandgefährlich, Stöhr und Kekulé dagegen nicht. Beide argumentieren mit Daten, was die Angelegenheit für die Politik schwieriger macht, mehr aber noch für die Bevölkerung. Welchen Daten soll man glauben, wenn sogar Wissenschaftler sich nicht einigen können oder wollen, wie diese zu interpretieren sind. Brinkmann sagt, die Briten-Variante (B.1.1.7) werde sich auch in Deutschland durchsetzen, das hält sie für ein ‚Naturgesetz‘, Stöhr fehlt schlicht die ‚Evidenz‘. Er hätte auch sagen können, dass er die Brinkmann-These für Vodoo hält“.
In der Öffentlichkeit bewirkt die gegenwärtige Pandemieberichterstattung Ambivalenz. Besonders in der Impfdebatte sollten Risiken und Nutzen dabei abgewogen werden. Edward Jenner (1749-1823) verwies bei seiner ersten Pockenschutzimpfung zurecht daraufhin: „Ich weiß nicht, ob ich nicht doch einen furchtbaren Fehler gemacht habe und etwas Ungeheures geschaffen habe.“ Der häufig vermittelte Glaube, dass durch die neuen Impfungen gegen das SARS-CoV-2-Virus eine Eradikation gelungen ist, sollte dabei nicht zu euphorisch verkündet werden. Die Erkenntnisse auf dem Gebiet der Mutationen bei virusbedingten Infektionen: Antigenshift und Antigendrift, der zu einem kompletten neuen Virussubtyp und Veränderungen in den Antigenen führen kann; belegen sie doch eindrücklich die Zeitgebundenheit. Es sei hier an die neu bekannten Mutationen bzw. Antigendrift: England (B.1.1.7), Südafrika (B1351/501.V2) und Brasilien (P.1) in kurzer Zeit eindringlich verwiesen. Am 14. Dezember 2020 meldete Großbritannien als erstes Land eine SARS-CoV-2-Mutation (VOC); Linie B.1.1.7, auch als VOC 202012/01 oder 20I / 501Y.V1 Mutante definiert. Die B.1.1.7 Mutation ist – wahrscheinlich - im September 2020 aufgetaucht und hat sich schnell zur dominierenden zirkulierenden SARS-CoV-2-Variante in England entwickelt. Die neue Mutante wurde bereits in vielen Ländern, einschließlich den deutschsprachigen Staaten, festgestellt. Mehrere Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Mutante B.1.1.7 leichter übertragen wird als andere SARS-CoV-2-Varianten. Die leichte Übertragung der neuen Mutante könnte die angespannten Ressourcen des Gesundheitswesens extrem gefährden. In diesem Zusammenhang wird bereits vor einer neuen „Dritten Pandemiewelle“ gewarnt. Um der Besorgnis entgegenzuwirken, wird aktuell gefordert, dass eine verbesserte genomische Überwachung in Verbindung mit der fortgesetzten Einhaltung wirksamer Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, einschließlich Impfung, physischer Distanzierung, Verwendung von Mund-Nasen-Masken, Händehygiene sowie Isolierung und Quarantäne weiterhin von essentieller Bedeutung sind, um eine weitere Ausbreitung der neuen Mutationen zu begrenzen. Ein routinemäßiges Screenen auf SARS-CoV-2 von Personen in Gesundheitseinrichtungen, Kindergärten, Schulen, Behörden, Polizei, Einzelhandel, bietet eine weitere wichtige präventive Intervention, die anhaltende Infektionsausbreitung zu begrenzen. Hierzu ist aber anzumerken, dass diese Schnelltests aktuell keine 100% Sicherheit in der Detektion des Virus bieten!
Schlussfolgerungen für Tätige im Gesundheitswesen
Alle medizinischen Berufe sollten sich im Klaren sein, dass auch weiterhin COVID-19-Infektionen mit schwerwiegenden Komplikationen in Akutkliniken zu behandeln sein werden. Eine Besonderheit intensivpflichtiger COVID-19-Verläufe liegt darin, dass die Beatmungstherapie oft über längere Zeiträume erforderlich ist. Nach der Entlassung von der Intensivstation kann über Wochen und Monate eine Vielzahl von Folgeschäden zurückbleiben, die in Rehabilitationseinrichtungen weiterbehandelt werden müssen.
Die Schutzimpfung gegen SARS-CoV-2 bei den beruflich Pflegenden stellt gegenwärtig in Verbindung mit den expositionsprophylaktischen Maßnahmen (Schutzkleidung, Gesichts-Mundschutz u.v.m.) den besten Infektionsschutz einer nosokomialen COVID-19-Infektion dar. Im Sinne des International Council of Nurses sollten daher alle Pflegeberufe positiv jeglichen Impfungen und im speziellen der neuen COVID-19-Vakzine aufgeschlossen sein. Der deutsche Pflegeverband forderte jüngst zu Recht auch einen Impfschutz für das Lehrpersonal. Krankheiten bei den anvertrauen Patienten zu verhüten, ist das Maß aller Dinge. Jede medizinisch tätige Fachkraft, Lehrtätige und natürlich auch alle Personen in der entsprechenden Ausbildung, sollten das Impfangebot wahrnehmen, um sich und ihre Patienten vor der COVID-19-Infektion zu schützen - sofern keine Kontraindikation für die Vakzine bei dem Impfling vorliegt. Generell sollten alle Berufsgruppen im Krankenhaus – auch Reinigungskräfte – ein Impfangebot von Seiten der Krankenhausträger erhalten.
Dies ist ein Kommentar von Hardy-Thorsten Panknin, Berlin, der nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen muss.
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