Daher appellieren die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, die Deutsche Rentenversicherung Bund und der GKV-Spitzenverband an Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), eine Initiative der polnischen Regierung gegen die aktuellen Normierungsaktivitäten auf europäischer Ebene zu unterstützen. Eine Standardisierung von Gesundheitsdienstleistungen sei nicht geeignet, mehr Patientensicherheit und Zugang zu einer hochwertigen Versorgung zu erreichen. „Sie könnte sogar das Gegenteil bewirken“, befürchten sie. Als Beispiele nennen sie die Qualitätssicherung in der Pflege und die medizinische Versorgung in der Reha. In diesen Bereichen gebe es in Deutschland etablierte Verfahren der Selbstverwaltung, die auf die spezifischen Bedingungen der nationalen Versorgungssituation ausgerichtet seien, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.
Durch eine europäische Normung könnten parallele Strukturen entstehen. Da sich die Gesundheits- und Sozialsysteme der EU-Mitgliedsstaaten erheblich unterschieden, sei zu befürchten, dass man sich nur auf einen Minimalkonsens verständigen könne. Es bestehe die Gefahr, dass Qualitäts- und Sicherheitsniveaus abgesenkt würden. Leidtragende wären dann die Versicherten. Normierungsprojekte im Gesundheitsbereich könnten mit nationalen Regelungen, Vorschriften und Leitlinien in Konflikt geraten. Mit ihren Befürchtungen stehen die Sozialversicherungsträger nicht allein da. So wehrt sich die Bundesärztekammer (BÄK) schon länger gegen Normierungsbestrebungen aus Brüssel. Eine solche Normung würde bedeuten, dass die Individualität von Arzt und Patient graduell oder vollständig durch eine abstrakte Expertise ersetzt würde, heißt es in einer Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK. Abstrakten, allgemeingültigen Normen würde Leitliniencharakter verliehen. Für eine solche methodische Verquickung gebe es aber keinerlei Evidenzbasierung.
Der 119. Deutsche Ärztetag in Hamburg forderte Ende Mai die EU-Kommission auf, die im Vertrag von Lissabon garantierte Souveränität der Mitgliedsstaaten bei der Gestaltung ihrer Gesundheits- und Sozialsysteme zu respektieren. Das betreffe vor allem die Versuche des Europäischen Komitees für Normung (Comité Européen de Normalisation, CEN), auch ärztliche Tätigkeiten beziehungsweise Gesundheitsdienstleistungen normieren zu wollen. „Die für die Gesundheitsversorgung zuständigen Ministerien der EU-Mitgliedsstaaten werden aufgefordert, ihre jeweiligen nationalen Normungsorganisationen bei der Zurückweisung von Projekten zur Normung von Gesundheitsdienstleistungen zu unterstützen“, heißt es in einem Beschluss des Deutschen Ärztetages.
Die Vertreter von mehr als 40 Mitgliedsverbänden bei der Konferenz der Fachberufe im Gesundheitswesen wandten sich bereits Anfang des Jahres gegen Bestrebungen, die Tätigkeit von Ärzten und Angehörigen anderer Berufe zu normieren. „Eine weitere Regulierung der Patientenversorgung durch europäische Normen ist überflüssig und unterläuft die deutschen Qualitätsstandards für Gesundheitsdienstleistungen. Sie wird der individuellen Beziehung zum Patienten nicht gerecht“, sagte Dr. med. Max Kaplan, Vorsitzender der Fachberufekonferenz und Vizepräsident der Bundesärztekammer. Nach Überzeugung der Mitgliedsverbände gebe es in Deutschland umfassende gesetzliche und berufsrechtliche Regelungen für die Ausübung der Gesundheitsberufe sowie transparente und evidenzbasierte wissenschaftliche Leitlinien.
Rückendeckung für ihren Widerstand erhalten die Gegner einer Normierung von Gesundheitsdienstleistungen auch vom Bund. So berichtete das Deutsche Ärzteblatt (Heft 47/2015), dass das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im vergangenen Jahr in einem Schreiben an das Deutsche Institut für Normung (DIN) 19 Verstöße der Norm EN 16372 gegen Bundes- und Länderrecht aufgelistet habe. Neben der ärztlichen Berufsordnung betreffe dies unter anderem datenschutzrechtliche und strafrechtliche Bestimmungen, das Medizinprodukterecht sowie das Krankenhausgesetz. Das BMG fordert das DIN daher dazu auf, von einer nationalen Implementierung der europäischen Norm abzusehen.
Stellungnahme des DVTA zum Thema Normierung von Gesundheitsdienstleistungen
Auf der 87. Gesundheitsministerkonferenz haben die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für die Gesundheit der Länder die Entwicklung von Normen durch die internationale Normungsorganisation abgelehnt. Sie sehen die Gefahr, dass innerstaatliches Recht und der Regelungsspielraum der Selbstverwaltung dadurch umgangen werden könnten. Dieser Auffassung schließt sich auch der Dachverband für Technologen/-innen und Analytiker/-innen in der Medizin Deutschland (DVTA) an. Er hat sich bereits auf der Konferenz der Fachberufe im Gesundheitswesen am 2. März 2016 gegen Bestrebungen auf europäischer und nationaler Ebene gewandt, die Tätigkeit von Ärzten und Angehörigen anderer Berufe im Gesundheitswesen zu normieren.
Gesundheitsdienstleistungen sind keine Handelswaren, die genormt werden können.
Jede Patientin/jeder Patient hat ihre/seine eigene Krankengeschichte und bedarf einer auf sie/ihn abgestimmten Behandlung und Therapie, die ihre/seine konkreten Lebensumstände berücksichtigt und sie/ihn am wenigsten belastet. Eine vereinfachende Normierung wird damit weder der Patientensicherheit noch der gesetzlich geschuldeten Qualität in der Gesundheitsversorgung gerecht. Zudem besteht für die Normung auch keine Notwenigkeit, da es in Deutschland umfassende gesetzliche Regelungen (§§ 135–139 SGB V, 630 a ff BGB, das Berufsrecht, evidenzbasierte wissenschaftliche Leitlinien etc.) gibt, welche die Grundlage für eine einzelfallgerechte und selbstbestimmte Berufsausübung bilden.
Elske Müller-Rawlins
Vorstandsreferentin/Syndica DVTA
Entnommen aus MTA Dialog 9/2016
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