Neuroanatom und Psychiater Korbinian Brodmann (1868–1918)

Hirnforschung: „Vom Hütebuben zum Professor“
Christof Goddemeier
Neuroanatom und Psychiater Korbinian Brodmann (1868–1918)
Korbinian Brodmann © Autor unbekannt – Brodmann K: Vergleichende Lokalisationslehre der Grosshirnrinde: in ihren Prinzipien dargestellt auf Grund des Zellenbaues. Leipzig, 1909, gemeinfrei, wikimedia
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Gemeinsam mit Oskar Vogt schuf Korbinian Brodmann die technischen Voraussetzungen für die Herstellung großflächiger Hirnschnitte. Er fand, dass die Großhirnrinde von Säugetieren und Menschen aus sechs Schichten aufgebaut ist – ein großer Fortschritt gegenüber der Situation zuvor.

Nach einigen Vorarbeiten veröffentlichte Korbinian Brodmann 1909 seine Ergebnisse zur Zytoarchitektur der Großhirnrinde: „Vergleichende Lokalisationslehre der Grosshirnrinde: in ihren Prinzipien dargestellt auf Grund des Zellenbaues“.Darin teilte er die Großhirnrinde nach histologischen Kriterien in 52 Felder ein, die nach ihm als Brodmann-Areale bekannt sind. Dabei war sein Ziel, „ein vollständiges Bild des Rindenbaues und seiner örtlichen Modifikationen in allen Teilen zu erhalten und möglicherweise auf diesem Wege zu einer auch für die Klinik verwertbaren topographisch-lokalisatorischen Gliederung der Rindenfläche zu gelangen“. Brodmann erkannte zwar in Ansätzen die funktionelle Bedeutung der Areale, etwa den primär-motorischen Cortex im Gyrus praecentralis des Frontallappens (Area 4), doch er verstand sich als Anatom und war bezüglich der Verknüpfung bestimmter Funktionen mit den von ihm beschriebenen Feldern zurückhaltend. Eine Spekulation über die Lokalisation komplexer psychischer Vorgänge in einzelnen Arealen lehnte er ab.

Bis zur detaillierten Kartierung der Großhirnrinde war es ein langer Weg. Die Hirnforscher Cécile und Oskar Vogt stellten einer ihrer gemeinsamen Publikationen diesen Satz aus dem 17. Jahrhundert voran: „Die Anatomie ist der Schlüssel und das Steuerruder der Medizin.“ Eine erste Unterteilung des Hirngewebes nahm Franz Joseph Gall (1758–1828) vor. Das Gehirn sei keine solide Masse, fand er, „sondern eine große, in (. . .) regelmäßigen Falten liegende Haut“. Gall unterteilte das Hirngewebe in graue und weiße Substanz. Während Zellkörper und ihre kurzen Fortsätze die graue Substanz bilden, besteht die weiße Substanz aus den Axonen der Neurone. Auf der Hirnoberfläche beschrieb man Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci), eine einheitliche Nomenklatur existierte nicht.

Ende des 19. Jahrhunderts bekamen die Modelle des Gehirnaufbaus eine politische Konnotation: War das Großhirn hierarchisch oder gleichberechtigt organisiert? Funktionierte es von oben nach unten oder umgekehrt? Der Psychiater Paul Flechsig (1847–1929) gilt als einer der „Väter der Neuroanatomie“. Er entdeckte den Tractus spinocerebellaris dorsalis als wesentliche Verbindung zwischen Kleinhirn und Hirnrinde und unterteilte die Hirnoberfläche in Sinnes- und Assoziationsfelder. Sein Modell verglich Flechsig mit der Monarchie. Dabei standen drei hierarchisch organisierte Assoziationszentren an der Spitze, das Projektionszentrum entsprach dem Parlament. Hier kamen zwar unterschiedliche Meinungen zu Wort, doch die Entscheidungen wurden woanders getroffen. Das Ehepaar Vogt und der Nervenarzt Theodor Meynert vertraten dagegen ein eher republikanisch organisiertes Modell des Großhirns (Düweke). Demnach leiten Projektionsfasern Sinneseindrücke aus der Peripherie an den Cortex, wo sie durch Assoziationsfasern verknüpft und untereinander abgestimmt werden. Beide vertraten die sogenannte Lokalisationslehre. Neurologische Störungen ließen sich damit verorten: 1868 beschrieb der französische Neurologe Paul Broca die motorische Aphasie, sechs Jahre später lokalisierte Carl Wernicke die sensorische Aphasie in der linken oberen Temporalwindung. Versuche, auch für psychische Störungen einen Ort in der Hirnrinde zu finden, führten jedoch nicht zum Erfolg.

Tilman Spenglers Roman „Lenins Hirn“ (1991) hat einen wahren Hintergrund. 1925 bat eine russische Kommission Oskar Vogt (1870–1959), Lenins Gehirn in Moskau zu untersuchen. Vogt kam der Bitte nach und veröffentlichte zwei Jahre später erste Ergebnisse aus 30.000 Serienschnitten, die seine Assistentin vom Gehirn des 1924 verstorbenen Revolutionärs angefertigt hatte. Demnach habe Lenin „(. . .) in vielen Rindenfeldern Pyramidenzellen von einer sonst nie beobachteten Größe beziehungsweise größte Pyramidenzellen in einer sonst nie beobachteten Zahl“ besessen. Die Möglichkeit eines Artefakts verneinte Vogt und bilanzierte: „Aus allen diesen Gründen lässt unser hirnanatomischer Befund Lenin als einen Assoziationsathleten erkennen.“ Einige Jahre zuvor hatte Brodmann noch größere Pyramidenzellen beim Wickelbären und Löwen gefunden. Heute weiß man, dass Pyramidenzellen in erster Linie motorische Funktionen haben. Vogts Diagnose des „Assoziationsathleten“ erntete denn auch Kritik und Spott – 1995 meinte der Hirnforscher Wolf Singer, dass man Lenins Gehirn auch mit modernen, deutlich verfeinerten Messmethoden die Begabungen seines Besitzers nicht ansehen könne. Und die indische Ärztin Christina Sathyamala fragte polemisch: „Fanden sie unterm Mikroskop kleine rote Fäuste?“

1868 wurde Korbinian Brodmann in Liggersdorf im Landkreis Konstanz geboren. Seine Eltern heirateten erst, als er 18 Jahre alt war. Solange trug er den Nachnamen seiner Mutter Sophie Benkler. Zu seinem ungewöhnlichen Vornamen kam Brodmann durch den Pfarrer – er gab dem unehelich Geborenen den Namen des Tagesheiligen. 1889 begann Brodmann sein Medizinstudium, das er 1895 abschloss. Ursprünglich wollte er sich als praktischer Arzt im Schwarzwald niederlassen, verwarf diesen Plan jedoch nach einigen Wochen wieder. Im Sommer 1896 lernte Brodmann im oberfränkischen Kurort Alexanderbad Oskar Vogt kennen. Vogt leitete dort eine Nervenheilanstalt, in der Brodmann nach seiner Diphtherie-erkrankung kurze Zeit als Assistent arbeitete.

Die Begegnung war für Brodmanns weiteren Weg entscheidend. Vogt erkannte seine „vielseitigen wissenschaftlichen Interessen“, seinen „tiefen Drang nach Erkenntnis“ und seine „selbstlose Hingabe an die dazu erforderliche Arbeit“. Brodmann wandte sich der Neurologie und Psychiatrie zu, promovierte in Leipzig über „Chronische Ependymsklerose“ und arbeitete in verschiedenen Kliniken. 1901 traf er in Frankfurt auf Alois Alzheimer, der ihn zur psychiatrischen Grundlagenforschung ermutigte. Im gleichen Jahr begann der 33-jährige Brodmann seine Forschungen bei Cécile und Oskar Vogt in der Berliner „Neurobiologischen Zentralstation“, dem späteren Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung.

Cécile und Oskar Vogt begründeten die Zytoarchitektonik, welche sich mit der Zusammensetzung von Geweben beschäftigt: Man färbt Gewebeareale an und versucht unter dem Mikroskop, strukturelle Unterschiede zwischen ihnen zu finden. Die Vogts untersuchten die Verbindungen von Nervenzellen (Myeloarchitektonik) und unterteilten die Großhirnrinde in 200 Felder. Brodmann widmete sich der Frage der Lokalisation und suchte aus der räumlichen Anordnung der Nervenzellen Strukturmerkmale abzuleiten. Dazu bedurfte es spezifischer technischer Voraussetzungen, denn Gehirngewebe ist weich. Deshalb musste es zunächst in Paraffin gebettet und gehärtet werden. Dazu fertigte man mit dem Makrotom dickere Scheiben an, die man mit Paraffin durchtränkte. Dann wurden mit dem Doppelschlittenmikrotom sehr dünne Schnitte hergestellt, die nach Färbung mit Methylethylenblau oder Kresylviolett unter dem Mikroskop betrachtet und fotografiert werden konnten.

Gemeinsam mit Oskar Vogt schuf Brodmann so die technischen Voraussetzungen für die Herstellung großflächiger Hirnschnitte. Er fand, dass die Großhirnrinde von Säugetieren und Menschen aus sechs Schichten aufgebaut ist – ein großer Fortschritt gegenüber der Situation zuvor. Durch ihre Benennung in Zahlen blieb Brodmanns Hirnkartierung für weitere Forschung offen, auch spätere Forscher konnten seine Nomenklatur verwenden. Im Lauf der Zeit verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Vogt und Brodmann. Die Gründe dafür sind nicht geklärt. Die Ablehnung seiner Habilita-tionsschrift „Die cytoarchitektonische Kortexgliederung der Halbaffen“ durch Theodor Ziehen 1910 traf Brodmann schwer. Er verließ Berlin und folgte einem Ruf Robert Gaupps an die Tübinger Klinik, wo er sich ein Jahr später habilitierte.

Den Ersten Weltkrieg erlebte Brodmann als Arzt in einem Tübinger Reservelazarett, 1916 wechselte er nach Halle. Hier lernte er seine Frau Margarete Franke kennen, ein Jahr später heirateten die beiden. 1918 wurde die Tochter Ilse geboren. Im gleichen Jahr erhielt Brodmann einen Ruf an die Münchener Universität, wo er die topografisch-histologische Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie leitete, des späteren Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. Am 17. August erkrankte Brodmann an einem zunächst harmlosen grippalen Infekt, aus dem sich jedoch rasch eine Sepsis entwickelte. Wenige Tage später starb er im Alter von nur 49 Jahren. Der Psychiater Emil Kraepelin, Leiter der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, schätzte Brodmann sehr. In seinem Nachruf schrieb er: „(. . .) habe ich die traurige Pflicht, anzuzeigen, daß Herr Professor Dr. Brodmann (. . .) an einer stürmisch verlaufenden Blutvergiftung heute Nachmittag verschieden ist. Wir betrauern in ihm einen Forscher von ganz hervorragender Begabung, der in seiner Eigenschaft schlechthin unersetzlich ist.“ Und in seinen „Lebenserinnerungen“ würdigte er Brodmann namentlich als den „einzigen und zugänglichen Vertreter der topographischen Rindenhistologie“.

Weil sich für Brodmann kein Ersatz fand, wurde die von ihm geleitete Abteilung aufgelöst. Nur vier Monate später starb auch Brodmanns Frau. Die kleine Tochter wuchs bei den Großeltern auf. In den folgenden Jahren angefertigte Hirnkarten, etwa die der Vogts und des Wiener Neuroanatomen Constantin von Economo, hatten viel mehr Felder. In ihrem Standardwerk von 1937 ignorierten die Vogts Brodmann, doch andere Forscher nahmen auf ihn Bezug und orientierten sich an seiner Arbeit. Otfried Foerster und Karl Kleist, deren Arbeiten im angloamerikanischen Sprachraum breit rezipiert werden, verwendeten Brodmanns Hirnkartierung als Grundlage.

Seit Mitte der 1970er-Jahre arbeiteten Forscher im Hirnforschungszentrum Jülich an einer Karte des gesamten Gehirns, die weit über Brodmanns Kartierung hinausgehen sollte (Projekt „Brain Mapping“). Im letzten Jahr haben Jülicher und Düsseldorfer Forscher unter der Leitung von Katrin Amunts „Julich Brain“, den ersten 3-D-Atlas des Gehirns und die bisher umfangreichste digitale Karte der Zytoarchitektur des Gehirns, im Fachmagazin „Science“ vorgestellt. Der Atlas bildet die Variabilität der Hirnstruktur mit mikroskopischer Auflösung ab. Im Rahmen des europäischen „Human Brain“-Projekts dient er dazu, Informationen über das Gehirn räumlich exakt zu verknüpfen. „Zum einen wird der digitale Hirnatlas dazu beitragen, Ergebnisse von Bildgebungsstudien, etwa von Patienten, genauer zu interpretieren“, sagt Katrin Amunts, Direktorin am Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin. „Zum anderen soll er Grundlage für eine Art ,Google Earth‘ des Gehirns werden – denn die Zellebene bildet die beste Basis, um Wissen über ganz unterschiedliche Facetten des Gehirns zusammenzuführen.“

In Brodmanns Geburtsort Hohenfels-Liggersdorf gibt es seit 2009 ein Museum, das an den bedeutenden Arzt erinnert. Der Forschungsbereich Geschichte und Ethik der Medizin am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg hat zudem ein mobiles Museum initiiert, das Wanderausstellungen an Interessierte in ganz Deutschland ausleiht.

Literatur

  1. Düweke P: Kleine Geschichte der Hirnforschung. München: Verlag C. H. Beck 2001.
  2. Kanis-Seyfried U, Müller T: Wanderausstellung Brodmann in Deutsch (14 Roll-Ups). ZfP Südwürttemberg, Forschungsbereich Geschichte der Medizin.
  3. Schott H, Tölle R: Geschichte der Psychiatrie. München: Verlag C. H. Beck 2006.
  4. www.korbinian-brodmann.de

Entnommen aus MTA Dialog 3/2021

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