„Ich gehöre jetzt wohl zum alten Eisen, das nicht mehr gebraucht wird“
Die Kinder sind aus dem Haus und leben ein gutes Leben, mit ihrem Mann führt sie eine harmonische Partnerschaft, hat ein schönes Zuhause. Doch der Blutdruck ist zu hoch und sie ärgert sich immer öfter bei ihrer Arbeit. Der neue, jüngere Chefarzt hat völlig andere wissenschaftliche und menschliche Vorstellungen und scheint sich kaum für sie zu interessieren.
„Ich fühle mich oft undankbar, weil ich so vieles habe, was andere sich wünschen und doch nicht glücklich bin. Dann werde ich immer antriebsloser und möchte am liebsten nur noch weg. Vielleicht sollte ich mir irgendwo einen ruhigen Posten suchen und die letzen Jahre bis zur Rente aussitzen? Wenn ich nur den Mut dazu hätte“. Meine Erfahrung sagt mir, dass es um diese Variante wahrscheinlich nicht geht, weil wir uns selbst ja immer mitnehmen, wohin wir auch gehen. Wenn wir uns von einer Arbeitssituation trennen, weil sie unerträglich scheint und wir nicht lernen, was unser Anteil daran ist, wird uns Ähnliches mit einer neuen Arbeit wieder passieren.
Ich frage mich und sie, was genau das Gehen bringen würde. Man spricht auch von einem Ziel hinter dem Ziel. Manchmal gestehen wir uns nicht ein, was wir wollen, manchmal wissen wir es gar nicht. Schnell wird deutlich, dass die Arbeit an sich Spaß macht. Sie ist sehr gern MTA und für die Patienten da, gibt gern ihr Wissen an jüngere weiter. Wenn – ja, wenn der neue Chef nicht wäre.
„Ich fühle mich und meine Arbeit, ja die bisherige Arbeit der ganzen Station, infrage gestellt. Ich möchte mich fachlich austauschen und ernst genommen werden, an einem Strang ziehen. Mir fehlen Wertschätzung und Aufmerksamkeit, die ich bisher hatte.“ Wir stellen ganz ausführlich das Für und Wider des Gehens oder Bleibens gegenüber. Schnell wird klar, dass Bleiben der Favorit ist. Die Zielformulierung lautet nun „Ich bin die wertvolle Sparrings-Partnerin meines Chefarztes“ und fühlt sich für sie richtig attraktiv an.
„Was in Ihnen könnte es schwer machen, dorthin zu kommen?“ ist eine Frage, deren Beantwortung meist die Hilfe eines neutralen Außenstehenden erfordert, denn wir sind in unseren eigenen Perspektiven gefangen. Wir nehmen immer zuerst an den anderen wahr, was diese besser machen könnten, wo diese uns behindern usw. Doch wir selbst sind immer Teil des Ganzen und leisten einen Beitrag dazu, dass die Situation ist, wie sie ist.
So überlegen wir gemeinsam, dass sie eine einzelne Kränkung aus einem Gespräch nicht verzeihen kann und generalisiert hat: „Nie hört mir mein Chef zu und nie sieht er, was ich leiste“. Frau A. erkennt, dass sie allgemeine Bemerkungen zu Situationen auf der Station oder im Krankenhaus auf sich bezieht. Sie versteht weiter, dass sie selbst ungerecht ist, wenn sie dem Jüngeren innerlich die Kompetenz abspricht und sich heimlich über seine Art zu sprechen lustig macht. Und dass sie zu schnell aufgibt, wenn sie ein Thema besprechen möchte und nicht gleich auf offene Ohren trifft. Sie hat die Wahrnehmung ihres eigenen Wertes komplett vom Verhalten und der Interpretation des Verhaltens des Chefarztes abhängig gemacht.
Die Lösung liegt nun auf der Hand und ist simpel und anspruchsvoll zugleich: Selbst die Dinge in die Hand zu nehmen, selbst zu tun, was sie sich wünscht. Dabei beharrlich, freundlich und konsequent sein und sich auf die eigenen Stärken besinnen. Und, dies ist besonders wichtig, dem anderen die eigenen Bedürfnisse mitteilen – niemand kann unsere Gedanken lesen.
Die Basis ist, sich selbst und dem Chef wieder ehrliche Wertschätzung entgegen zu bringen. Frau A. erarbeitet dazu Listen ihrer Talente, Fähigkeiten und guten Eigenschaften. Dies ist gar nicht so leicht, leben wir doch in einer Gesellschaft, in der man mit Sprüchen wie „Eigenlob stinkt“ groß wird, sodass wir uns viel zu wenig selbst schätzen und deshalb ständig auf der Suche nach Lob und Anerkennung von außen sind. Noch schwieriger wird es, wertvolle Seiten an seinem Chef zusammenzustellen.
Wir lenken die Aufmerksamkeit außerdem auf andere Quellen der Wertschätzung. Sie kann sich an den guten Bewertungen der Patienten und Kollegen erfreuen und bei Weiterbildungen mit Kollegen messen.
Wir erarbeiten Gemeinsamkeiten, auf denen sich eine herausfordernde, attraktive, partnerschaftliche Beziehung aufbauen lässt, wie die Liebe zur Medizin und die Sorge um die Patienten. Eine erste konkrete Maßnahme wird die Vereinbarung von – kurzen – Gesprächsterminen sein. Ausprobieren kann Frau A. auch, selbst ein offenes Ohr für den Chef zu haben. Für schwierige Situationen kann sie sich mit Musik in eine gute Stimmung versetzen, an etwas Angenehmes, wie ihre Gartengestaltung, denken, oder das eigene Befinden auch einmal ansprechen.
Zum Schutz der beteiligten Personen wurden sie erheblich verändert, scheinbare Ähnlichkeiten sind also zufällig.
Entnommen aus MTA Dialog 4/2016
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