Jeder kennt das: Vogelhäuschen daneben, der leuchtend rot gestrichene Zaun, die verklinkerte Fassade – all das signalisiert Ihnen, dass Sie richtig sind. Jeder Ort hat zahlreiche Merkmale, die ihn auszeichnen und ihn in ihrer Summe unverwechselbar machen. Um uns an ihn zu erinnern, müssen wir daher die Kombination dieser Merkmale abspeichern (dazu können auch Töne oder Gerüche gehören). Denn nur dann können wir ihn sicher wiedererkennen, wenn wir ihn noch einmal besuchen, und von ähnlichen Orten unterscheiden.
Diese Speicherung der exakten Merkmals-Kombination bei Menschen mit chronischer Epilepsie ist möglicherweise gestört. In diese Richtung weisen zumindest die Befunde der aktuellen Studie. „Wir haben uns darin Nervenzellen im Hippocampus von Mäusen angesehen“, erklärt der Neurowissenschaftler Dr. Nicola Masala vom Institut für Experimentelle Epileptologie und Kognitionswissenschaften am Universitätsklinikum Bonn. An der Studie waren neben Universitätsklinikum und Universität Bonn das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), das University College London sowie die University of California, Irvine, beteiligt.
Ortszellen im Hippocampus
Der Hippocampus ist eine Region im Gehirn, die bei Gedächtnisprozessen eine zentrale Rolle spielt. Das gilt vor allem für die räumliche Erinnerung: „Es gibt im Hippocampus sogenannte Ortszellen“, sagt Masala. „Diese helfen uns, uns an besuchte Orte zu erinnern.“ Im Hippocampus der Maus gebe es rund eine Million verschiedene Ortszellen. Und jede davon spreche auf eine Kombination spezifischer Umgebungs-Merkmale an. Es gebe also – vereinfacht gesagt – auch eine Ortszelle für „Apfelbaum/Vogelhäuschen/Zaun“.
Doch wie wird sichergestellt, dass die Ortszelle nur auf eine Kombination dieser drei Merkmale reagiert? Dafür sorge ein Mechanismus, der als „dendritische Integration“ bezeichnet wird. Denn Ortszellen verfügen über lange Ausläufer, die Dendriten. Diese sind mit zahlreichen Kontaktstellen übersät, an denen die Informationen einlaufen, die die Sinne uns zu einem Ort vermitteln (de facto sind das oft Hunderte oder Tausende). Diese Kontakte werden Synapsen genannt. Wenn an vielen benachbarten Synapsen zur selben Zeit Signale eingehen, dann kann sich im Dendrit ein starker Spannungspuls bilden – ein sogenannter dendritischer Spike.
Abgespeicherte Informationen weniger spezifisch
Der Dendrit integriert auf diese Weise also verschiedene Ortsinformationen. Nur wenn alle zusammenkommen, kann er einen Spike erzeugen. Und nur dann wird diese Kombination gespeichert, sodass wir das Haus unseres Bekannten beim nächsten Besuch wiedererkennen. „In Mäusen mit Epilepsie ist dieser Vorgang jedoch gestört“, erklärt Prof. Dr. Heinz Beck, in dessen Arbeitsgruppe Dr. Masala promoviert hat und, der auch Sprecher des Transdisziplinären Forschungsbereichs „Leben und Gesundheit“ der Universität Bonn ist. „Bei ihnen entstehen die Spikes schon, wenn nur wenige Synapsen gereizt werden. Auch muss die Reizung nicht exakt zur selben Zeit erfolgen.“ Man könnte vielleicht sagen: Die Ortszellen der kranken Nager sehen nicht so genau hin. Sie feuern bei allen Häusern mit einem Apfelbaum im Vorgarten. Dadurch sind die abgespeicherten Informationen weniger spezifisch. „Wir konnten in unseren Experimenten zeigen, dass die betroffenen Tiere deutlich größere Probleme hatten, bekannte Orte von unbekannten zu unterscheiden“, betont Masala.
Mögliche neue Wirkstoffe?
Doch was ist der Grund dafür? Damit sich ein Spike bilden kann, müssen große Mengen elektrisch geladener Teilchen (der Ionen) in die Zelle strömen. Dazu öffnen sich Poren in der Membran, die den Dendriten umhüllt – die Ionenkanäle. „Bei unseren Versuchstieren war in der Dendriten-Membran ein spezieller Kanal für Natrium-Ionen deutlich häufiger vorhanden als normal“, erläutert Dr. Tony Kelly vom Institut für experimentelle Epileptologie und Kognitionswissenschaften, der die Studie mit betreut hat. „Dadurch reichen schon wenige schlecht synchronisierte Reize an den Synapsen aus, um viele Kanäle zu öffnen und einen Spike hervorzurufen.“
Es gibt Hemmstoffe, die ganz spezifisch den betroffenen Kanal blockieren und so den Einstrom von Natriumionen verhindern. „Wir haben den Tieren eine solche Substanz verabreicht“, sagt Masala. „Dadurch normalisierte sich bei ihnen das Feuerverhalten der Dendriten. Außerdem konnten sie sich wieder besser an Orte erinnern, die sie besucht hatten.“
Die Studie liefere so einen Einblick in die Prozesse, die beim Abruf von Erinnerungen ablaufen. Darüber hinaus lasse sie mittelfristig auf die Herstellung neuer Medikamente hoffen, mit denen sich das Gedächtnis von Epilepsiepatientinnen und -patienten verbessern lasse. Diese vielversprechenden Ergebnisse seien auch Resultat einer fruchtbaren Kooperation, betont Masala: „Ohne die Zusammenarbeit insbesondere mit den Laboratorien von Prof. Dr. Sandra Blaess, Dr. Laura Ewell und Prof. Dr. Christian Henneberger an der Universität Bonn wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen.“
Quelle: Idw/Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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