Entdeckung des Agars als Geliermittel für Bakterienkulturen

„Frau Hesses Medium“ – Fanny Angelina Hesse (1850–1934)
Christof Goddemeier
Titelbild des Beitrags aus der Rubrik Historisches über die Entdeckung des Agars und Fanny Angelina Hesse
Fanny Hesse (ca. 1883) © The National Library of Medicine, public domain
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Auch bei Twitter würdigte man Fanny Hesses Verdienste in der Bakteriologie: „An alle Mikrobiologen da draußen, die jemals Bakterien auf Agar kultiviert haben. Ihr könnt Hesse dankbar sein. Vor der Einführung von Agar nutzte man Gelatine, die die Eigenschaft hat zu schmelzen, wenn sie erhitzt wird. Hesse entdeckte Agar, das seitdem Standard geworden ist“, schrieb „Applied Microbiology International“, die älteste mikrobiologische Gesellschaft Großbritanniens, 2020. (Übersetzung durch d. Verf.)

 Wie es sich an jenem Sommertag 1881 zutrug, ist nicht genau bekannt. Wolfgang Hesse, Enkel von Fanny und Walther Hesse und pensionierter Internist aus Karlsruhe, berichtete 1992 in einem Artikel über seine Großeltern: „Walther hatte große Probleme, mikrobielle Proben aus der Luft zu analysieren. Im Sommer herrschten in Schwarzenberg und Dresden Temperaturen, bei denen Gelatine sich verflüssigte. Gelatine war damals das Nährmedium, mit dem man die Glasröhrchen bei solchen Untersuchungen beschichtete. (…) Eines Tages fragte der frustrierte Wissenschaftler seine Frau, warum ihre Gelees und Puddings bei diesen Temperaturen stabil blieben. Sie erzählte ihm von Agar-Agar.“ (Übersetzung durch d. Verf.) Friedrich Hesse, Sohn der Hesses, praktizierte als Chirurg in Dresden. Laut einem Brief von ihm, auf den sich das „Journal of Bacteriology“ berief, schlug Fanny selbst ihrem Mann vor, bei seinen Experimenten ein Geliermittel zu verwenden, das sie seit Langem in der Küche benutzte. Seitdem ist Agar in der Mikrobiologie und Bakteriologie unverzichtbar.

Würdigung erst posthum

Eigentlich gebührte den Hesses ein Platz unter den bekannten, wissenschaftlich arbeitenden Paaren, etwa Sylvia und James Tait, Kathleen und Thomas Lonsdale sowie Marie und Pierre Curie. Doch Fanny Hesses Entdeckung fand keinen Eingang in eine eigene Publikation. So bleibt die Würdigung posthum: „Könnte man Agar nicht von jetzt an als ‚Frau Hesses Medium‘ bezeichnen? Ihr Beitrag zur Bakteriologie macht sie unsterblich“ (Hitchens und Leikind).

Fanny Eilshemius wurde 1850 in New York geboren. Die Vorfahren kamen aus den Niederlanden, die Familie hatte sich in der Nähe von Emden, Ostfriesland, niedergelassen. 1842 emigrierte ihr Vater Hinrich (Henry) Eilshemius in die USA, wo er sieben Jahre später Cecile Robert, Tochter des Schweizer Malers Léopold Robert, heiratete. Das Paar bekam zehn Kinder, von denen fünf in den ersten Lebensjahren verstarben. Fanny war die Älteste. Ihr Vater brachte es als Kaufmann zu Wohlstand und konnte sich bereits in seinen Vierzigerjahren zur Ruhe setzen. 1865 wechselte Fanny auf ein Mädchenpensionat in der Schweiz, wo sie alles Wesentliche für ihre Rolle als Hausfrau und Mutter lernte.

Heirat mit Walther Hesse

Der vier Jahre ältere Walther Hesse (1846–1911) stammte aus Sachsen und war Mediziner, Bakteriologe und Hygieniker. Auch sein Vater war Arzt, und Walthers älterer Bruder Richard praktizierte als Mediziner in Brooklyn, New York. 1872/73 unternahm Walther als Schiffsarzt zwei Reisen nach New York und erforschte dabei die Seekrankheit. Er besuchte seinen Bruder und lernte über ihn die Eilshemius-Familie und Fanny kennen. Nach seiner Rückkehr wurde die medizinische Gesellschaft in Zittau auf seine Arbeit aufmerksam. Eine Trichinose, an der er auf seinen Reisen erkrankt war, heilte folgenlos aus.

Nach dem US-Bürgerkrieg (1861–65) war es für wohlhabende Familien üblich, den Sommer in Europa zu verbringen. 1872 reiste die Familie Eilshemius in die Schweiz, und Fanny und ihre Schwester besuchten Dresden, wo Fanny Walther wiedertraf. 1874 heirateten die beiden in Genf. Das Paar bekam drei Söhne, lebte zunächst in Zittau und danach in Schwarzenberg/Erzgebirge, wo Walther eine Stelle als Bezirksarzt hatte und bakteriologische Forschungen betrieb. Er war unter anderem für 83 Dörfer zuständig, die er regelmäßig besuchte. Er war bestürzt über die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen der dort lebenden Minenarbeiter. Bereits Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim) hatte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in diesem Gebiet auftretende Lungenleiden beschrieben, die er „Bergsucht“ nannte. Die Arbeiter erkrankten an einer Lungenkrankheit, die später als Lungenkrebs bekannt wurde (auch „Schneeberger Krankheit“ genannt). Gemeinsam mit einem Kollegen befragte Hesse die Arbeiter und nahm Sektionen vor. In seiner weithin anerkannten Studie über die bösartige Erkrankung ließ sich der Zusammenhang zwischen der Minenarbeit und dem gehäuften Auftreten des Krebses eindeutig belegen. Man vermutete Asbest als ursächliches Agens, radioaktive Substanzen wie Uran und Radium waren noch nicht bekannt. Erst später fand man eng mit dem Gestein verwachsene Uranerze als Auslöser der Krankheit. Hesse empfahl der Regierung zahlreiche Maßnahmen, um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern. Dabei ging es ihm auch um den Schutz der Kinder, denn Kinderarbeit war zu der Zeit weit verbreitet.

Arbeit als medizinisch-technische Assistentin

Fanny Hesse war nie nur Hausfrau und Mutter. Zum einen arbeitete sie im Labor ihres Mannes als medizinisch-technische Assistentin. Die Bezeichnung gab es damals noch nicht, aber Reformen ermöglichten Frauen zunehmend den Schritt ins Berufsleben. Zum andern nutzte sie ihr Talent und illustrierte Hesses Publikationen. Dabei zeichnete sie etwa Bilder von vergrößerten Bakterienkolonien auf Nährböden während unterschiedlicher Wachstumsphasen. Ihre Zeichnungen und die exakte Kolorierung mit Wasserfarben belegen ihr gründliches Verständnis der Bakteriologie und Mikroskopie, etwa in einer Publikation Hesses von 1908, in der er eine quantitative Methode zur Kultivierung von Darmbakterien beschrieb (Wolfgang Hesse). 1881/82 arbeitete Walther Hesse im Labor von Robert Koch im „Kaiserlichen Gesundheitsamt“ und untersuchte den bakteriellen Gehalt der Luft. Seine Ergebnisse publizierte er 1884 im Band II der „Mitteilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt“. Drei doppelseitige Lithografien illustrierten den Text. Die Zeichnungen dazu stammten von Fanny Hesse.

Bis zur Entdeckung von Agar war es ein langer Weg

Mehr als zweihundert Jahre vor Walther Hesses Studien untersuchte der Niederländer Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) das Leben im Wassertropfen und sah Bakterien, Protozoen und andere Einzeller („Vater der Protozoologie und Bakteriologie“). Zudem entdeckte er Spermien (Spermatozoen) in der Samenflüssigkeit. In mehreren Hundert Briefen teilte Leeuwenhoek der Royal Society in London seine Beobachtungen mit. Er war eigentlich Tuchhändler und Beamter in Delft. Als genialer Autodidakt brachte er sich das Mikroskopieren selbst bei.

In den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts präsentierte Rudolf Virchow (1821–1902) seine Zellularpathologie. Hier vertrat er die Auffassung, dass die Zelle „wirklich das letzte Formelement aller lebendigen Erscheinungen“ sei. Das gilt sowohl für Gesundheit als auch für Krankheit. Krankheit ist demnach eine „besondere Art“ des Lebens und „Zellentätigkeit unter abnormen Umständen“, ihre Erforschung sollte die physikalisch-chemischen Veränderungen der Zelle oder eines Zellverbandes in den Blick nehmen. Anknüpfend an Paracelsus ist für Virchow die Zelle „Leib“ der Gesundheit und Leib der Krankheit. Bei der Frage nach den letzten Ursachen jener Zellveränderungen lieferte dann die Bakteriologie erste große Erfolge, indem sie eine spezifische Infektion durch bakterielle Erreger nachwies.

Bis dahin folgten die meisten Studenten der Klassifikation des schwedischen Botanikers Carl von Linné (1707–78), der Bakterien zu den zweifelhaften Arten zählte und in die Klasse „Chaos“ einordnete. Eine gewisse Verbesserung stellte die Einteilung des Dänen Otto Frederik Müller (1730–84) dar, der Bakterien für „Infusorien“ („Aufgusstierchen“, zum Beispiel Pantoffeltierchen und Amöben) hielt und nach ihrer Form beschrieb.

Beginn einer neuen Zeit

Mit Louis Pasteur, Ferdinand Cohn und Robert Koch begann eine neue Zeit. Der französische Chemiker Pasteur zeigte, dass die Gärung von Wein auf Mikroorganismen zurückzuführen ist, und dass Mikroorganismen abgetötet werden, wenn man Flüssigkeiten erhitzt („Pasteurisieren“). Hand in Hand mit diesen ersten Erfolgen ging die Suche nach geeigneten Nährmedien, auf denen Bakterienkulturen sich anzüchten ließen. Um relativ reine Kulturen herzustellen, füllte Pasteur winzige Mengen Fleischbrühe mit darin enthaltenen Bakterien immer wieder in neue Glaskolben. Einige Pioniere der neuen Wissenschaft arbeiteten mit gekochten Kartoffeln und Spiegeleiern. Das war ungünstig, weil man sie nicht unter dem Mikroskop betrachten konnte. Gefragt war ein steriler und möglichst fester Nährboden, auf dem die Bakterien sich vermehrten und Kolonien bildeten. Denn „wenn einer nicht mit reinen Kulturen arbeitet, dann kommt nur Unsinn und Penicillium heraus“, konstatierte der deutsche Pilzforscher Oscar Brefeld. Das hieß: Schimmelpilze der Gattung Penicillium waren überall und dominierten rasch jede mikrobielle Mischkultur.

Die frühen Mikrobiologen, zum Beispiel Edwin Klebs, Joseph Lister und Carl Salomonsen, suchten mit wechselndem Erfolg, das Nährmedium zu optimieren. Auch Koch beteiligte sich. Die mit Gelatine stabilisierten Nährlösungen, die Koch und Hesse verwendeten, wiesen bereits viele erwünschte Eigenschaften auf. Der Nachteil: Bei Temperaturen über 30 Grad verflüssigt sich Gelatine. Zudem können etliche Bakterien die Kollagenfasern der Gelatine verdauen, was ebenfalls die Stabilität beeinträchtigt.

„Entdeckung“ des Agars

Hier kam Fanny Hesse ins Spiel. Seit Jahren benutzte sie Agar in der Küche für die Zubereitung von Fruchtgelee und Gemüsesülze. Das Rezept hatte sie von ihrer Mutter. Die wiederum bekam den Tipp von niederländischen Freunden, die eine Zeit lang auf Java gelebt hatten. Agar wird aus Meeralgen gewonnen und ist ein Galactose-Polymer. In Japan und China nutzte man es seit dem 17. Jahrhundert für die Zubereitung von Speisen. In südostasiatischen Ländern ist es unverzichtbarer Bestandteil der Küche und wird etwa für die Eindickung von Suppen verwendet. Für Menschen, die sich vegetarisch oder vegan ernähren, ersetzt Agar Gelatine, die aus Tierkörperresten gewonnen wird. Hesses Vermutung, Agar könnte sich für die Experimente ihres Mannes als geeignet erweisen, ging voll auf. Seine Vorteile: Es ist elastisch und ausreichend stabil, und die meisten Mikroorganismen können es nicht verdauen. Zudem wird es erst bei 95 °C flüssig. Man kann sich Walther Hesses Begeisterung über die Entdeckung seiner Frau vorstellen: Mit einem Schlag waren seine Probleme bei der Kultivierung von Bakterien gelöst. Bald teilte er Robert Koch Fannys Entdeckung mit. Koch erkannte ihren Wert und nutzte Agar neben anderen Geliermitteln in seinen Petrischalen. In seiner Ankündigung zur Entdeckung des Tuberkuloseerregers (Mycobacterium tuberculosis) erwähnte er 1882 erstmals den Einsatz von Agar zur Kultivierung von Bakterien, Fanny Hesse nannte er jedoch nicht. Und zu einer separaten Veröffentlichung dieser bahnbrechenden technischen Verbesserung kam es nicht. Als Fanny Hesse 1934 starb, war sie unter Bakteriologen kaum bekannt. Heute wird zur Kultivierung von Bakterien fast ausschließlich Agar verwendet.


Literatur

1.    Hesse W: Walther and Angelina Hesse – Early Contributors to Bacteriology (ins Englische übersetzt von Dieter Gröschel). In: ASM News, Band 58, Nr. 8, 1992; 425–8.

2.    Hitchens AP, Leikind MC: The Introduction of Agar-Agar into Bacteriology. In: Journal of Bacteriology, Band 37, Nr. 5, 1939; 485–93.

3.    Rüschemeyer G: Frau Hesses Geheimrezept. In: Mare Nr. 140, Juni/Juli 2020; 85 ff.

4.    Seidler E: Geschichte der Pflege des kranken Menschen. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag, 5. Aufl. 1980.

Entnommen aus MT im Dialog 2/2023

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