Der Biologe Theodor Boveri (1862–1915)

„Pionier der modernen Zell- und Entwicklungsbiologie“
Christof Goddemeier
Der Biologe Theodor Boveri (1862–1915)
Theodor Boveri um 1908 © Autor unbekannt, in: Hugo Freund und Alexander Berg (Hrsg.): Geschichte der Mikroskopie. Leben und Werk großer Forscher. Bd. 1, Biologie, Umschau Verlag, Frankfurt am Main 1963, S. 121–132, gemeinfrei, wikimedia commons.
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"Fast alles, was er gefunden hat, war das Ergebnis seiner Gründlichkeit und Schärfe im Denken und Beobachten“, sagte der Mediziner und Zoologe Hans Spemann über seinen Lehrer Theodor Boveri. Und der Genetiker Richard Goldschmidt befand 1958: „Fast will mir scheinen, dass je mehr die Jahre vergehen und die moderne Biologie erfolgreich fortschreitet, Boveris Ruhm nicht nur nicht verblasst, sondern noch strahlender leuchtet denn je zuvor.“

Nach Boveris eigenem Bekunden beschäftigte er sich fast sein ganzes Leben mit der Erforschung der Vorgänge, „durch die aus den elterlichen Zeugungsstoffen ein neues Individuum mit bestimmten Eigenschaften hervorgeht“ (1910). Dazu gehören Zytologie, Entwicklungsbiologie und Genetik. Boveri leistete auf allen Gebieten theoretisch und praktisch Grundlegendes: Er formulierte die Theorie von der Chromosomenindividualität, die Zentrosomentheorie der Befruchtung und die Theorie der unterschiedlichen Wertigkeit der Chromosomen. 1903/04 identifizierten Boveri und Walter E. Sutton die Chromosomen als Träger der Erbanlagen. Neben den Vorgängen im Zellkern richtete Boveri seine Aufmerksamkeit auf das Eiplasma und zeigte experimentell seine Bedeutung in der Embryonalentwicklung.

1902 vermutete er, dass maligne Tumoren sich aus abnormen Chromosomenkombinationen entwickeln; zwölf Jahre später führte er diese Annahme in einer eigenen Schrift erneut aus. Als vergleichender Anatom fand er, dass beim Lanzettfischchen die bereits beschriebenen Genitalkammern den embryonalen Nierenkanälchen der Wirbeltiere entsprechen mussten. Im Zeichnen begabt, illustrierte er einen Teil seiner Arbeiten selbst. In seiner Rektoratsrede 1906 legte Boveri seine Anschauungen über die Entwicklung der Lebewesen dar.

1862 wurde Boveri in Bamberg geboren. Der Vater war Arzt, doch er interessierte sich mehr für Musik und Zeichnen und übte seinen Beruf nicht regelmäßig aus. Boveri studierte in München zunächst mit historisch-philosophischem Schwerpunkt und wandte sich dann den Naturwissenschaften zu. Nach seiner Dissertation „Beiträge zur Kenntnis der Nervenfasern“ begann er 1885 im Zoologischen Institut der Universität mit seinen Studien. Zu dieser Zeit war bekannt, dass Zellen bei vielzelligen Lebewesen die Grundbausteine von Organen und Geweben bilden. Man wusste, dass sie aus einem plasmatischen Leib und dem Zellkern bestehen und sich durch Teilung vermehren. Der Zellteilung geht eine Kernteilung voraus, die einem einheitlichen Schema folgt (Mitose). Geschlechtliche Fortpflanzung war als Vereinigung von Ei- und Samenzelle (Gameten) bekannt. Dabei sah man in der Verschmelzung der Gametenkerne den wesentlichen Vorgang der Befruchtung. 1885 formulierte der Arzt, Zoologe und Genetiker August Weismann (1834–1914) seine Theorie des Keimplasmas. Demnach bestehen vielzellige Organismen aus somatischen Zellen und Keimzellen, den Trägern der Erbinformation. Diese bewirken somatische Veränderungen, werden ihrerseits von den somatischen Zellen aber nicht beeinflusst. Das heißt, erworbene Eigenschaften können nicht an die nächste Generation weitergegeben werden (sogenannte Weismann-Barriere). Diese Theorie widersprach der damals verbreiteten Theorie von der Vererbung erworbener Eigenschaften, die auf Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) zurückgeht.

Richard Hertwig machte Boveri auf die Chromosomenforschung und die Arbeiten des Belgiers Edouard van Beneden am Pferdespulwurm Ascaris aufmerksam. Der Parasit war für zytologische Forschung gut geeignet und leicht zu beschaffen. Sein Eikern enthält nur vier, bei einer Rasse sogar nur zwei Chromosomen, die zudem relativ groß sind, sodass die Vorgänge der Kernteilung sich gut beobachten lassen.

1887 postulierte Weismann eine Reduktion der Chromosomenzahl vor der Bildung der Gameten. Im gleichen Jahr sah Boveri in seiner ersten „Zellenstudie“, dass jedes reifende Ei bei zwei „Reifeteilungen“ mit zwei „Richtungskörpern“ seinen Chromosomenbestand auf die Hälfte reduziert (haploider Chromosomensatz). Der ausgestoßene Anteil wird bei der Befruchtung durch die Elemente der Samenzelle ersetzt. Weismanns Postulat, dass bei der Reifung Chromosomen und Erbanlagen neu kombiniert würden, konnte Boveri nicht belegen. Carl Rabl hatte zwei Jahre zuvor die Konstanz der Chromosomenzahl und ihre Kontinuität in der Interphase angenommen. 1888 begründete Boveri seine These von der Individualität der Chromosomen im Interphasekern und formulierte, Chromosomen seien „selbständige Individuen, die diese Selbständigkeit auch im ruhenden Kern bewahren“. 1909 präzisierte er den Begriff der Individualität. Gemeint war damit „(...) nicht eine dauernde Identität im mathematischen Sinne, sondern dass wir ein organisiertes Gebilde noch als das gleiche Individuum bezeichnen, wenn auch kein Teilchen mehr das gleiche ist (...)“. Als Beispiel führte er den Schmetterling an, den man „das gleiche Individuum nennt wie die Raupe, aus der er sich entwickelt hat“. Seine These blieb nicht unwidersprochen, insbesondere der Anatom und Pathologe Rudolf Fick vertrat die Ansicht, dass die Chromosomen lediglich vorübergehende Manövriereinheiten seien, welche im ruhenden Kern wieder gemischt würden. Eine jahrelange Auseinandersetzung folgte, in deren Verlauf Fick Boveris Belege schließlich akzeptierte.

Zwar sah man in der Verschmelzung der Gametenkerne den wesentlichen Vorgang der Befruchtung, doch Boveri zeigte, dass für den Beginn der Entwicklung lediglich ein Gametenkern erforderlich ist: „Die Vereinigung von Ei- und Spermakern ist nicht die Bedingung, sondern der Zweck der Befruchtung.“ (1892) Unverzichtbar ist dagegen ein aktives Teilungszentrum in der befruchteten Eizelle, das Zentrosom oder Zentriol: „Unter Centrosoma verstehe ich ein der entstehenden Zelle (..) zukommendes, distinktes dauerndes Zellorganell, das (...) die dynamischen Zentren für die Entstehung der nächst zu bildenden Zellen liefert.“ Boveri zufolge wird dieses Zentriol paternal (väterlich) oder maternal (mütterlich) vererbt, bei Fadenwürmern und Seeigeln paternal, bei Organismen mit parthenogenetischer (Jungfernzeugung) Entwicklung, zum Beispiel der Biene, kommt das Zentriol der Eizelle zum Einsatz.

Mittels Dispermie (Doppelbesamung) von Seeigeleiern gelangte Boveri zur Erkenntnis der Verschiedenwertigkeit der Chromosomen. Bei Dispermie findet sich statt der bipolaren ersten Furchungsspindel eine tetrapolare Spindel. Die drei haploiden Chromosomensätze verteilen sich zufällig zwischen den Spindeln, das heißt nach Drei- oder Vierteilung der Eizelle („Simultandreier“, „Simultanvierer“) enthalten einzelne oder alle primären Blastomeren (Furchungszellen) einen unvollständigen Chromosomensatz. Boveri fand, dass die sich daraus entwickelnden Embryonen Defekte aufwiesen, und führte diese Defekte auf das Fehlen bestimmter Chromosomen zurück. Er schloss: „(...) nicht eine bestimmte Zahl, sondern eine bestimmte Kombination von Chromosomen ist notwendig zur normalen Entwicklung, und dieses bedeutet nichts anderes, als dass die einzelnen Chromosomen verschiedene Qualitäten besitzen.“ (1902)

Ende der 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts galt überwiegend die Kerntheorie der Vererbung. Am deutlichsten hatte Eduard Strasburger formuliert: „Das Cytoplasma ist an dem Befruchtungsvorgang nicht beteiligt.“ Daraus folgte zwingend, dass allein der Zellkern das materielle Substrat der Vererbung enthalten musste. Aber stimmte das? Nicht alle folgten dieser Theorie. Carl Wilhelm von Nägeli und Friedrich Meves etwa postulierten Vererbungssubstanz überall dort, wo sie benötigt wurde. 1889 stellte Boveri klar, dass die Kerntheorie der Vererbung keineswegs bewiesen sei.

Oscar und Richard Hertwig hatten entdeckt, dass man Seeigeleier durch Schütteln in Bruchstücke zerlegen kann. Viele dieser Fragmente enthalten den Eikern, andere sind kernlos. Boveri zeigte, dass sich auch die eikernlosen Bruchstücke, wenn sie befruchtet werden, zu normalen Larven entwickeln. Demnach genügt in diesen Fällen der väterliche haploide Chromosomensatz für eine normale Entwicklung. In seinem Experiment, das als „merogonische Bastardierung“ bekannt ist, brachte Boveri zerschüttelte Sphaerechinus-Eier mit dem Sperma einer anderen Seeigelart zusammen. Die Resultate deutete er als Beweis der Kerntheorie: „Die aus kernlosen Eifragmenten erzeugten Larven [tragen] ausschließlich Charaktere der väterlichen Spezies zur Schau (...). Mit dem mütterlichen Kern sind zugleich die mütterlichen Vererbungstendenzen beseitigt. Das mütterliche Protoplasma, obgleich es ja auch in diesem Fall materiell den weitaus größten Anteil an der Bildung des neuen Organismus nimmt, ist auf die Form desselben ohne allen Einfluß.“ (1889) Doch bald erkannte er, dass seine Untersuchungen zur Entscheidung der Frage nicht ausreichten. Auch andere Resultate (etwa Oswald Seeliger und Thomas H. Morgan) erschütterten deren Beweiskraft, was Boveri sofort anerkannte. Zeitlebens beschäftigte er sich mit den ungelösten Fragen seiner Experimente, noch in einer posthum erschienenen Schrift unterzog er sie einer Kritik. Doch die Merogonie-Versuche erwiesen sich durchaus als fruchtbar. Und in den folgenden Jahren zeigte Boveri experimentell die Bedeutung des Protoplasmas für die Embryonalentwicklung.

Der Wurm Ascaris lieferte Boveri Belege für die Individualität der Chromosomen. Das gilt jedoch nur für die Geschlechtszellen, die die gesamte Erbinformation weitergeben. Etwa zur gleichen Zeit zeigte Boveri, dass in einem Teil der Zellen die Schleifenenden der Chromosomen abgestoßen und im Plasma resorbiert werden („Diminution“). Aus den diminuierten Zellen entsteht das Soma, der Wurmkörper. Dabei kann man am Ascaris-Ei eine „animale“ und eine „vegetative“ Hälfte unterscheiden (Heteropolie). Die erste Furchungsteilung führt zu einer animalen und einer vegetativen Zelle: „(...) die animale Zelle löst Diminution aus, die vegetative nicht.“ (1904)

Der Befund, dass die „Potenz“ der Zelle, also das, was sie zu leisten imstande wäre, viel größer ist als ihre Leistung in der normalen Entwicklung, führte den Biologen Hans Driesch zu seiner vitalistischen Auffassung der Lebensvorgänge („Philosophie des Organischen“ 1909). Boveri zufolge ist es jedoch „die Beschaffenheit des Plasmas (...), welche das Schicksal der in ihm liegenden Chromosomen nach der einen oder anderen Richtung bestimmt.“ (1910) Drieschs Begriff der „harmonisch-äquipotentiellen Systeme“ gegenüber blieb er skeptisch: „(...) ob nicht harmonisch-äquipotentiell heißt: schlecht untersucht?“

Boveri habilitierte sich für Zoologie und vergleichende Anatomie. Neun Forschungsaufenthalte führten ihn zur Zoologischen Station in Neapel. Mit 30 Jahren wurde er Professor in Würzburg, wo er bis zu seinem Tod blieb. 1897 heiratete Boveri die US-Amerikanerin Marcella O’Grady, die nach Würzburg gekommen war, um bei ihm zu arbeiten. 1900 wurde die Tochter Margret geboren. Boveri starb mit nur 53 Jahren. Die Todesursache ist unklar. Sicher ist, dass er sich mit Ascaris infiziert hatte. Wenige Monate vor seinem Tod schrieb er in einem Brief an Spemann launig: „Vorgestern ist mir ein Ascaris lumbricoides (Männchen) abgegangen (.…) Gemein, wenn die Viecher, mit denen man sich beschäftigt hat, sich nun mit einem selbst beschäftigen.“

Literatur

1. Baltzer F: Theodor Boveri – Leben und Werk eines großen Biologen 1862–1915. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1962.

2. Cremer T: Von der Zellenlehre zur Chromosomentheorie. Berlin: Springer Verlag 1985.

3. Moritz KB: Theodor Boveri (1862–1915), Pionier der modernen Zell- und Entwicklungsbiologie. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag 1993.

Entnommen aus MTA Dialog 10/2021

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