COVID-19: Untersuchung zu norditalienischen Sterbezahlen

Auswirkungen der Pandemie nur unvollständig abgebildet?
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Coronavirus
Auswirkungen des Coronavirus auf die Sterberate Romolo Tavani, stock.adobe.com
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Einer Untersuchung der Charité zufolge sind in der norditalienischen Gemeinde Nembro allein im März 2020 mehr Einwohner gestorben als im gesamten vergangenen Jahr. Nur rund die Hälfte der im Frühjahr verstorbenen Menschen waren jedoch als COVID-19-Todesfälle gemeldet.

Die Studie unterstreicht, dass die gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie deutlich über die offiziellen COVID-19-Sterbezahlen hinausgehen können – und ein Blick auf die Gesamtsterblichkeit zur Einschätzung der Situation wichtig ist. Die Lombardei in Norditalien gehört zu den am schwersten von der Coronavirus-Pandemie betroffenen Regionen in Europa. Trotz der hohen offiziellen COVID-19-Sterbezahlen zum Höhepunkt der Infektionswelle entstand vor Ort der Eindruck, dass diese Zahlen die beobachtete Belastung des Gesundheitssystems nicht vollständig erklären konnten. So auch in Nembro, einer Gemeinde mit rund 11.500 Einwohnern in der Provinz Bergamo. Um die tatsächlichen Auswirkungen der Pandemie auf das dortige Gesundheitssystem besser zu quantifizieren, hat ein Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Dr. Tobias Kurth, Direktor des Instituts für Public Health (IPH) der Charité, die lokale Sterblichkeit unabhängig von der Todesursache untersucht. Das Ergebnis der in Zusammenarbeit mit dem Mailänder Centro Medico Santagostino entstandenen Studie: Während des stärksten Infektionsgeschehens im Frühjahr 2020 starb noch einmal dieselbe Anzahl an Menschen, wie bekanntermaßen im Zusammenhang mit dem Virus verstorben waren.

Verlässliche deskriptive epidemiologische Analyse

Für die präzise epidemiologische Berechnung der ursachenunabhängigen Sterberate – der sogenannten Gesamtsterblichkeit – nutzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Daten aus dem Zeitraum zwischen Anfang 2012 und Mitte April 2020, die aus mehreren Quellen stammten: dem Italienischen Statistikamt (ISTAT), dem Einwohnermeldeamt von Nembro sowie dem COVID-19-Dashboard der Lombardei. „Nembro ist ein kleiner Ort mit einer sehr stabilen Bevölkerungsstruktur und wenig Zu- oder Wegzug“, erklärt Prof. Kurth. „Zusammen mit den sehr guten Datenquellen bot er besonders geeignete Voraussetzungen für eine verlässliche deskriptive epidemiologische Analyse zu der Frage, welche Auswirkungen ein unübersichtliches Infektionsgeschehen während der COVID-19-Pandemie auf die Gesundheit der Bevölkerung haben kann.“

Fast elfmal so viele Tote wie im März des Vorjahres

Der statistischen Analyse zufolge waren in den letzten Jahren in der Gemeinde für gewöhnlich etwas mehr als 100 Menschen gestorben. Beispielsweise gab es in den Jahren 2018 und 2019 insgesamt jeweils 128 bzw. 121 Todesfälle. Dagegen starben in den dreieinhalb Monaten zwischen dem 1. Januar 2020 und 11. April 2020 in Nembro 194 Personen, davon allein 151 im März. Umgerechnet ergibt das eine monatliche Gesamtsterblichkeit von rund 154 Todesfällen pro 1.000 Personenjahre im März 2020 – das sind fast elfmal so viele Tote wie im März des Vorjahres, als es 14 Todesfälle pro 1.000 Personenjahre gab. Der größte Anstieg der Todesfälle während der Infektionswelle wurde bei Personen ab einem Alter von 65 Jahren verzeichnet, insbesondere bei Männern. 14 der Verstorbenen waren jünger als 65 Jahre.

Diskrepanz zu gemeldeten COVID-19-Fällen

„Diese sehr massive Erhöhung der Sterberate im März 2020 können wir vor dem Hintergrund der sonst sehr stabilen Gesamtsterblichkeit in Nembro nur als Folge der Coronavirus-Pandemie werten“, sagt Marco Piccininni, Wissenschaftler am IPH und Erstautor der Studie. Von den während der Infektionswelle (Ende Februar bis Anfang April) gestorbenen 166 Menschen waren aber nur 85 positiv auf das Coronavirus getestet und offiziell als COVID-19-Todesfälle gemeldet worden. „Das ist eine enorme Diskrepanz, die zeigt: Die Folgen der Pandemie für die Gesundheit der Bevölkerung in Nembro waren deutlich gravierender, als die gemeldeten COVID-19-Sterbefälle andeuten“, erklärt Piccininni. Die Gründe für diese Diskrepanz sehen die Autoren der Studie hauptsächlich in zwei Faktoren: Zum einen ist es wahrscheinlich, dass nicht alle Coronavirus-Infizierten als solche erkannt wurden – etwa weil das Testmaterial knapp war und nicht alle Verdachtsfälle labordiagnostisch getestet wurden. Ein zweiter Grund könnte darin liegen, dass Menschen mit anderen Erkrankungen schlechteren Zugang zur Krankenversorgung hatten: entweder weil die Kapazität des Gesundheitssystems schon durch COVID-19-Fälle ausgeschöpft war oder weil sie aus Sorge vor einer Infektion das Krankenhaus nicht aufsuchen wollten.

Aktuelle Daten zur regionalen Gesamtsterblichkeit berücksichtigen

„Für eine präzise Abschätzung der gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie dürfen wir also nicht ausschließlich auf die bestätigten COVID-19-Sterbezahlen schauen“, betont Prof. Kurth. „Um vor Ort die geltenden Eindämmungsmaßnahmen besser an die Situation anpassen zu können, sollten zusätzlich aktuelle Daten zur regionalen Gesamtsterblichkeit berücksichtigt werden. Leider sind Daten zur Gesamtsterblichkeit nicht überall zeitnah abrufbar. Ich begrüße, dass vorläufige Daten für Deutschland seit Kurzem zur Verfügung stehen.“

Infektionswelle in Nembro

Nembro meldete Ende Februar die ersten Coronavirus-Fälle, ergriff erste Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung und wurde am 8. März Teil einer sogenannten Roten Zone, die niemand betreten oder verlassen durfte. Die Einwohner konnten ihre Wohnungen nur noch in Ausnahmefällen – wie zum Einkaufen von Lebensmitteln – verlassen. Bis zum 11. April stieg die Zahl der bestätigten Coronavirus-Infizierten auf 218. 85 von ihnen waren bis zum 16. April gestorben. Die Gesamtsterblichkeit nahm im April – vermutlich hauptsächlich durch die strengen Isolationsmaßnahmen – wieder ab.

Literatur:

Piccininni M, Rohmann JL, et al.: Use of all cause mortality to quantify the consequences of covid-19 in Nembro, Lombardy: descriptive study. BMJ 2020; 369: m1835, DOI: 10.1136/bmj.m1835.


Quelle: idw/Charité – Universitätsmedizin Berlin

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